Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
aus weißen Steinen das heilige Medizinrad gelegt und die Symbole ihrer Familie hinzugefügt. Die meisten Jungen störten sich nicht an so l chen Dingen, doch sie fand es gut und richtig, ihren geheimen Ort zu markieren. Jeder respektlose Halbwüchsige, der es wagte, ihre Zuflucht zu entweihen, würde ihren Zorn zu spüren bekommen. Sich verteidigen konnte sie, das wussten inzwischen alle Jungen, auch wenn sie so ma n che Zahnlücke und gebrochene Nase davontragen mussten, ehe sie ihr Respekt zollten.
Sie rannte durch Wiesen aus violetten, gelben und blauen Herbstbl u men, streckte die Arme aus und sog den Rausch des Lebens ein . Vor ihr tauchte der Abgrund auf. Sie riss sich das Kleid vom Leib, stieß sich vom Felsen ab und sprang. Mit lautem Platschen tauchte sie in das Wa s ser ein, ließ sich tiefer sinken, bis ihre Zehen die Kieselsteine des Grundes b e rührten. Kraftvoll stieß sie sich ab, schwamm wieder hinauf und durc h brach prustend die Oberfläche. Die Kälte raubte ihr den Atem. Ni r gendwo sonst war das Wasser so kalt und klar, denn ganz in der Nähe gaben die Tiefen der Erde eine Quelle frei, die den Tümpel füllte.
Allmählich ließ die Kälte nach. Ihre steifen Muskeln wurden wieder g e schmeidig, ihr Herz beruhigte sich . Sie ließ sich auf dem Rücken treiben und spürte einen Nachhall ihres alten L e bens, in dem sie den Namen Cynthia getr a gen hatte. Es waren ungeliebte Erinnerungen, und doch waren sie allgegenwärtig wie ihr Schatten. Di e ses Dasein, das in weite Ferne g e rückt war, wurde durchdrungen von einem Übelkeit erregenden Schr e cken. Manchmal sprach sie ein Gebet für ihre Mutter und für John, doch war es keines der weißen Gebete. Sie sprach und dachte in der Sprache der Nunumu. Seit Jahren hatte sie kein einziges altes Wort mehr auf ihrer Zunge gespürt. Nur im Traum kehrte die Sprache ihres früh e ren Lebens zurück.
„Unter den Tisch … ich sagte, unter den Tisch … räudige Ratten … ihr bekommt meine Familie nicht.“
Naduah trieb mit ausgebreiteten Armen dahin und sah in den we i ten Himmel. Hier und nirgendwo anders war ihre wahre Heimat. Man b e strafte sie nicht, wenn sie umherstreifte anstatt zu arbeiten. Sie ging, wann sie wollte und sie kam wieder, wenn ihr danach war. Dank Mahtos Unterricht besaß sie nicht nur Geschick im Umgang mit Pfeil und B o gen, sie hatte auch die Kunst des Steinewerfens perfe k tioniert und damit so manche n frechen Halbstarken Respekt gelehrt. Sie konnte nähen, weben und eine Antilopenhaut in ein samtweiches Kleidungsstück ve r wandeln, dem weder Sonne noch Wasser schadete und das viele Jahre lang so schön blieb wie am ersten Tag.
Während all der Jahre war sie zu einem neuen Menschen geworden. Sie war jetzt sechzehn, zu einer Frau herangereift und fürchtete sich vor nichts. Sie war geschickt, klug und niemals um eine einfallsreiche Beme r kung verlegen. Es gab nichts mehr, das sie mit dem schwachen Mädchen namens Cynthia verband.
Die Sonne stand senkrecht am Himmel, als sie das Bad beendete. Naduah erklomm die Kalkterrassen und legte sich in eines der flachen Becken, die durch den Regen mit warmem Wasser gefüllt waren. Ihr Kö r per entspannte, ihre Sinne blieben wachsam. Seit sie im vergangenen Winter zu einer Frau geworden war, ließ Naduah beim Baden Vorsicht walten. Scham war ein Gefühl aus ihrem alten Leben, das sie nie ganz hinter sich lassen konnte. Ihre Freundinnen zogen sie deshalb auf, doch der Geda n ke, von einem Jungen nackt am Fluss überrascht zu werden, war nach wie vor unangenehm.
Wasser kitzelte ihren Bauch, die hoch stehende Sonne narrte die Natur mit der Wärme eines längst gestorbenen Hochsommers. Mond der fa l lenden Blätter nannte man diesen Monat in ihrem Volk. In der alten Welt hieß er einfach nur Oktober. Schon darin erkannte man, so fand Naduah, wie a n ders die beiden Leben waren.
Ihr Herz wurde schwer und leicht zugleich, als sie an den ges t rigen Tag dachte. Ihr Körper bebte vor Sehnsucht, füllte sich mit einer zi e henden Leere, die noch schlimmer wurde, als sie spürte, wie der Wind ihre von der Kälte steif gewordenen Brustwarzen berührte. In Gedanken reiste sie erneut zurück zu jenem Moment, da sie Nocona inmitten der Kriege r schar erblickt hatte.
Die Nachmittagssonne brannte. Kein Windhauch ging, als die Krieger sich dem Dorf näherten. Fünfundzwanzig Quohadis, die gekommen waren, um mit den Wasps die Große Jagd zu begehen. Sie schnitt mit Huka Fleisch und Rüben
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