Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
worden war. Eins mit dem Wind zu werden.
Er verabschiedete sich mit Blicken und einem Lächeln, trieb Cetan an und sog, während er durch das Dorf ritt, die vielfältigen Düfte ein. Rauch, Pferde, eingekochte Pflaumen und verrottete Maulbeerrinde, die Leder beim Gerben so gelbbraun färbte wie Kehalas Kleid. Erst, als er die letzten Zelte passiert hatte, ließ er die Zügel des Hengstes locker. Wie ein befreiter Sturm jagte Cetan los. Er ließ das Dorf in Windese i le hinter sich, holte Kehalas Stute ein und vollführte bei der Durchqu e rung des Flusses übermütige Bocksprünge, die jeden ungeübten Reiter abgewo r fen hätten. Eiskaltes Wasser durchnässte seine Beinlinge. E r schrockene Gänse stoben aus dem Schilf auf und flatterten in alle Ric h tungen davon.
„Ist es nicht wunderbar?“ , rief Kehala. „Hör auf, dir Sorgen zu m a chen. Wir beide werden als Helden zurückkehren.“
„Als Helden?“ Er stieß ein schnaubendes Lachen aus. Es war schwer, wütend zu sein, wenn man auf dem Rücken eines Pferdes saß und im Herbstwind der Geruch nach Abenteuer lag. „Du meinst als Skalps, die an einem Planwagen oder an einer Kriegslanze baumeln. Oder als Ber g löwen-Futter.“
„Bruder, man könnte meinen, du hättest dir einen Skunk auf das G e sicht gebunden.“
„Warum?“
„Immer siehst du nur schwarz und weiß.“
Er kapitulierte mit einem Kopfschütteln. Mochte sie ihren Willen b e kommen, spätestens in den Bergen würde Kehala ihre Abenteuerlust bereuen und freiwillig zurückreiten. Er lehnte sich zurück und passte sich dem Rhythmus des Pferdes an. Cetans Hufe trommelten auf den Boden, Wind rauschte in den Bäumen. Hinter all der Sorge kochte Noconas Blut und glühte sein Herz. Was würde dort hinter dem Horizont auf sie wa r ten?
„Weißt du noch damals?“ Kehala kam so dicht an ihn heran, dass ihre Knie sich streiften. „Als Makamnaya seine Notdurft hinter einem Busch verrichten wollte und von einem Skunk eingesprüht wurde? Einen Mond lang musste er außerhalb des Zeltes schlafen. Man schrubbte ihn, steckte ihn in eine Schwitzhütte und ersäufte ihn fast mit diesem fürchterlichen Aufguss.“
„Ich liebe deine Art, die Dinge zu sehen, kleine Schwester. Aber du hast keine Ahnung, auf was du dich eingelassen hast.“
„Oh doch, die habe ich.“
„Wir müssen das himmelhohe Gebirge überqueren. In ihm hausen die Dämonen des Frostes und Schlimmeres.“
„Und Schlimmeres?“
Kehala dachte nicht daran, Angst zu bekommen. In lockerem Galopp durchmaßen ihre Pferde den Wald aus goldenen Pappeln. Noch lag das Gebirge in weiter Ferne, aber Nocona glaubte, bereits den drohenden Atem des Eises zu spüren. Sein von sanften Grashügeln geprägter Geist konnte eine solch gigantische Mauer aus Fels und Schnee kaum begre i fen. Er hatte sich entschieden, seine körperlichen und seelischen Gre n zen auszuloten. Sein Schicksal war es, diesen Bergen die Stirn zu bieten und sich den Dämonen auszuliefern. Aber es war nicht das Schicksal seiner Schwester.
Dann gab es noch die Skalpjäger, die das Papiergeld höher schät z ten als das menschliche Leben. In den großen Dörfern der Weißen zah l te man viel davon für die Kopfhaut eines Nunumu.
„Was hast du, Bruder? Geht es dir nicht gut?“
„Nein. Mir geht es nicht gut. Ich habe Angst um dich.“
„Hör auf damit. Ich fürchte nicht die Berge und ich fürchte nicht die Weißen. “
Der Pappelwald endete , vor ihnen lag nichts als die Weite der Großen Ebenen. Hügel um Hügel, bis der Blick die Ferne nicht mehr erme s sen konnte.
„In unseren Adern fließt das gleiche Blut“, sagte Nocona. „Du stehst mir in nichts nach. Abgesehen von deiner Dreistigkeit. Darin übertriffst du jeden Menschen bei W eitem .“
„Wo du gerade von gleichem Blut sprichst, was ist mit deinem Blauauge?“ Kehalas Augen glitzerten fröhlich. „Wirst du um sie werben, wenn wir zurück sind?“
Im Geiste sah er Naduahs Gesicht. Das Glänzen ihres goldbraunen Haares, die unwirkliche Farbe ihrer Augen. Ihr scheuer, stolzer Blick. Er sah ihre Gestalt, deren Bewegungen die Anmut eines Rehs besaßen, und er sah, wie ihr Kleid sich bei jedem Schritt an ihrer Hüfte und an ihren Brüsten rieb.
„Bruder?“ Kehala stieß ihn gegen die Schulter. „So , wie du ins Leere starrst, beantwortest du meine Frage auch ohne Worte.“
Er spürte, wie er errötete. Ein Spinnenfaden flog ihm ins Gesicht. Er wischte ihn mit einer beiläufigen Geste fort und überlegte,
Weitere Kostenlose Bücher