Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
hätte reichen sollen, nahezu aufgebraucht.
Hier oben gab es kaum Tiere, geschweige denn essbare Pflanzen. Alles, was sie auf ihrem Weg sahen, waren ein paar verkrüppelte K iefern , Fe l sentannen und dürre Sträucher, die sich mit verzweifeltem Trotz in den Stein krallten. Heute Morgen hatte Kehala versucht, einen Schneehasen zu erlegen, doch das Tier war zu schnell gewesen. Alles, was sie mit ihren trägen Körpern noch hätten fangen können, waren Schnecken. Doch hier oben gab es keine.
Nocona sah sich außerstande, mit ihr zu reden. Sein Körper war ein Kokon, den das Insekt verlassen hatte. Er vermisste das Dorf. Die Wärme des Tipis, den Gesang und die Trommeln, die flackernden Fe u er und die Geschichtenerzähler, die es fertigbrachten, sogar tausend Mal erzählte Legenden noch spannend zu gestalten. Er fühlte sich schu l dig und einsam. Vielleicht hätte er sich, wäre Kehala nicht gewesen, ei n fach in eine Schneewehe gelegt, um dort für immer einzuschlafen. Hö r ten diese Berge niemals auf? Er wusste nicht einmal mehr, wie lange sie b e reits unterwegs waren. Monde. Tage. Augenblicke oder Ewigkeiten.
„ Hinter diesem Pass sehen wir Wälder.“ Kehala brachte ein klägliches Lächeln zustande, was ihm längst nicht mehr g e lang. „Es ist nicht mehr weit. Ich weiß es. Wir sind schon so lange geritten. Irgendwann müssen diese Berge e n den.“
Er antwortete nichts darauf. Immer, wenn sie geglaubt hatten, das G e birge endlich bewältigt zu haben, öffnete sich vor ihnen eine weitere Endlosigkeit aus himmelhohen Gipfeln. Stürme peitschten den Pulve r schnee zu Nebel auf. Es gab nichts außer lebloser Kälte. Nachts flackerte der gespenstisch grüne Atem der Götter über den Sternenhimmel, und manchmal regnete es Kristalle. Alles glitzerte und flimmerte im Wide r schein dieses Wunders, doch was ihnen zuerst wunderschön erschienen war, bildete nun einen weiteren Teil ihres Martyriums.
„Mir ist warm.“ Nocona zog an seinem Schneeziegenfell. Sie ritten am Grund einer Schlucht entlang. Rechts und links ragten zerklüftete Fel s wände auf, die den Eindruck vermittelten, als könnten sie sich jeden Augenblick auf sie zubewegen und die winzigen Eindringlinge, die sich zwischen sie gewagt hatten, wie Mücken zerquetschen.
„Mir ist furchtbar warm.“
Hitze verbrannte die Kälte. Wütend zerrte er das Ziegenfell von seinen Schultern, doch es half nichts. Sein Körper kochte innerlich. Hastig b e gann er, an den Schnüren seines Hemdes zu zerren. Ihm wurde schwin d lig. Die Felswände lösten sich auf, zerschmolzen zu strudel n dem Wasser. Vor ihm tauchte der Fluss auf, an dessen Ufer sie ihr Sommerlager e r richtet hatten, umkränzt von einem seltsamen Ring aus Licht. Kinder nahmen Anlauf und sprangen lachend in seine Fluten. Die Sonne übe r goss die Welt mit schwerem, goldenem Schein. Er war zu Hause. Alles war nur ein böser Traum gewesen. Alles war gut.
„Nein!“ schrie eine helle Stimme. „Das bildest du dir nur ein. Hör auf damit. Du weißt, was Vater gesagt hat. Wenn man kurz vor dem Erfri e ren steht, wird einem warm. Hör auf, Bruder! Bitte hör auf. Du darfst dich nicht ausziehen. Sonst stirbst du.“
Verwundert starrte er die Felsen an, die plötzlich vor ihm auftauchten. Kein Sommerlager mehr. Keine Sonne, keine Kinder, die im Fluss nach Abkühlung suchten. Vor ihm berührten graue Gipfel einen kristallbla u en Himmel. Schleier aus Pulverschnee tanzten über ihren Köpfen. War er wirklich hier? Träumte er? Er war müde. So unendlich müde.
„Für heute sind wir weit genug geritten.“ Kehala zerrte ihn vom Pferd. „Komm, wir ruhen uns aus. Alles wird gut, das verspreche ich dir.“
Keuchend schleppte sie ihn zu einer Nische, legte ihn ab und holte Felle und Decken. Hastig begann sie, ihn und sich auszuziehen. Noconas Sinne schwanden. Als sie wie trübes Dämmerlicht zurückkehrten, kaue r te er in der Nische, eingewickelt bis zur Nase und an Kehalas nackten Körper geschmiegt . Ihm en t kam ein Lächeln. Hier hockten sie , halb erfroren in einem nie endenden Labyrinth aus Fels, Eis und Schnee. Ihre Heimat war weit entfernt, ihr Leben verwirkt. Nocona hatte gelernt, das Schicksal zu akzeptieren und in allem einen Sinn zu sehen, doch hier und jetzt fiel es ihr schwer. Es tut mir leid , wollte er sagen. Es tut mir leid, dass du wegen mir sterben musst.
Doch kein Wort kam über seine tauben Lippen.
Draußen heulte der Sturm durch die Schlucht. Er war erfüllt vom Kl a gen
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