Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
all der Seelen, die hier einsam den Tod gefunden hatten. Vielleicht würden auch bald ihre Stimmen darin zu hören sein, gefangen in der Zwischenwelt für den Rest aller Zeiten. Mit jedem Atemzug wurde er müder. Sein Herz schlug langsamer, die Wärme kehrte zurück. Oder war es nur eine trügerische Illusion des Todes? Er dachte an den großen, runden Felsen, auf dem er seine Geschichte in Bildern verewigt hatte. Mit einem kleinen Stein hatte er sie hineingekratzt, weil ihm der Gedanke gefiel, jemand könnte in naher oder ferner Zukunft diese Zeichnungen sehen. Wenn sie hier starben, würde die Erinnerung bleiben. Der Fels bewahrte sie. Seine erste Jagd, der Überfall auf das Fort, Naduah und Ptesawin und die große Reise. Er hatte den Platz für ihre Geschichte gut gewählt. Weder Regen noch Wind berührte es unter dem Vorsprung.
Erfüllt von Frieden, den ihm diese Gewissheit schenkte, konnte er endlich einschlafen.
Sara, 2011
L
ustlos rührte Sara in ihrem Kaffee herum. Warum war sie hier? Was tat sie hier? Das alles war doch vollkommen …
„Genial!“ Ruth klatschte in die Hände. „Sieh dir das an. Das wäre das perfekte Cover. Findet ihr nicht?“
Sara ließ sich Zeit mit dem Aufblicken. Normalerweise liebte sie es, Brainstorm - Meetings wie dieses abzuhalten, in der höchsten Etage des Verlagshauses, mit der gewaltigen, pulsierenden Stadt zu Füßen. Die s mal aber fühlte sie sich schlichtweg fehl am Platz. Zwei Plätze weiter säbelte der Grafiker an einer wagenradgroßen Pizza herum und stopfte sich ein Stück in den Mund.
„Geil!“ , pflichtete er Ruth bei, wobei eine Salve aus Pizzakrümeln über den Tisch flog. „Lernen wir den Hübschen mal kennen? Würde ihm gern ein paar Insider-Clubs zeigen.“
„Selbst wenn er hierherkommt , würde ich ihn keine Minute lang mit dir allein lassen.“ Ruth schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Und was meint ihr dazu?“
Die beiden dunkelhaarigen Damen, in Insiderkreisen gern als Ideen-Assistentinnen bezeichnet, waren sich einig: „Perfekt.“
Sara seufzte in ihren Kaffee hinein. Diese kalten, grauen Farben, das grelle Licht. Die Papierstapel, die schnarrenden Laptops und der sti n kende Dru c ker. Die angespannten Gesichter, in denen sich der perm a nente Zeitdruck verewigt hatte. Das hier war nicht das Leben, das sie glücklich machte. Aber sie brauchte das Geld, das es einbrachte.
Ihr Unwohlsein schaukelte sich zu echtem Ärger auf, als s ie den C o verentwurf auf der Leinwand sah. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!
„Nein!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf. „Eindeutiges N ein .“
Ruth hatte mit garstiger Treffsicherheit ausgerechnet ihr Lieblingsbild von Makah ausgewählt, es zu einem Cover verwurstet und mit dem Ve r lagslogo versehen. Sie starrte ihn an wie eine Erscheinung. Sein wunde r bares Gesicht, sein in die Ferne gerichteter Blick. Wind in seinem Haar, Schneekristalle. Tiefdunkle Augen, in denen sich der Winterhimmel spiegelte. Er war die personifizierte Melancholie. Sein Gesicht gehörte nicht hierher. Nicht auf dieses Cover und nicht vor die Augen dieser profitsüchtigen Hyänenmeute.
Um Himmels willen, wie dachte sie eigentlich über ihre Brötcheng e ber? Sara biss sich auf die Zunge. Seit dieser Makah-Geschichte bala n cierte sie gefühlsmäßig auf verflucht dünnem Eis und brach regelmäßig ein.
„Warum denn nicht?“ Ruth fiel aus allen Wolken. Ihre unnatürlichen langen, blau getuschten Wimpern klimperten entrüstet. „Wir waren uns doch einig, dass er perfekt ist. Die Leser werden uns das Buch aus der Hand reißen und es mit ins Bett nehmen.“
„Ja.“ Sara spielte mit dem Gedanken, einen Stuhl durch das Zimmer zu werfen. Sie ärgerte sich über ihre Unbeherrschtheit, konnte aber nichts dagegen tun. In ihrem Kopf loderte es. „Genau das meine ich. Das ist … ach verflixt, können wir nicht einfach ein anderes Cover ne h men? Bitte.“
„Also ich würde ihn auch mit ins Bett nehmen“, schnurrte der Graf i ker. „Und ganz woanders hin.“
„Sehr witzig“, fauchte Ruth. „Und bitte plappere nicht immer dazw i schen, sonst isst du deine Pizza im Keller weiter.“
Der Grafiker stöhnte. Zerknirscht schloss er die Pizzaschachtel und schob sie von sich.
„Also, meine Liebe.“ Ruth wandte sich wieder Sara zu – nein, sie fuhr herum wie eine wütende Klapperschlange – und gab den Worten me i ne Liebe einen Klang, als spräche ein sadistischer Henker voller Vo r freude zu seinem
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