Nocturne City 02 - Blutfehde
aber meine stark blutenden Wunden und der Schmerz unter meinen Rippen ließen das nicht zu. Eigentlich war es mir sogar egal, ob Joshua noch unter den Lebenden weilte. Nach dem, was er mir gerade angetan hatte, hätte ich seinen reglosen Körper liebend gern vor einen Güterzug gezerrt, aber an körperliche Anstrengungen war im Moment nicht zu denken.
Als ich mich umsah, bemerkte ich eine Stahltür zu meiner Linken. Ich taumelte hinüber und drückte die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Mein Blick wanderte zwischen dem leuchtenden Tastenfeld neben der Tür und dem am Boden liegenden Joshua hin und her. Schnell wurde mir klar, dass ich ohne den Code auf diesem Weg nicht entkommen würde. Joshuas Körper regte sich nicht, aber ich ahnte, dass sich dieser Zustand sehr schnell ändern konnte. Ich musste fliehen, und zwar sofort, bevor er aufwachen würde.
Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung. Seamus hat dich mit einem verborgenen Fahrstuhl in diesen Raum gebracht!, fuhr es mir durch den Kopf. Theoretisch musste ich also nur den Fahrstuhlknopf finden, und ich wäre gerettet. Da mein Sehvermögen aber immer noch zwischen „sturzbetrunken“ und „schemenhaft“ schwankte, presste ich kurzerhand meinen Körper gegen den kalten Putz und machte mich daran, die Wand abzutasten. Nach einigem Suchen fand ich tatsächlich einen Knopf, von dem ich aber nicht wusste, ob er einen Alarm auslösen oder den Fahrstuhl rufen würde. Mit dem Mut der Verzweiflung drückte ich ihn und sackte abermals unter schrecklichen Schmerzen zusammen.
Nach einigen Sekunden beendete das quietschende Geräusch sich öffnender Fahrstuhltüren mein angstvolles Warten. Hastig fischte ich meine Marke aus dem Mülleimer, schnappte mir meine Waffe und mein Handy und stolperte in den Fahrstuhl. Von meiner eigenen Geistesgegenwärtigkeit überrascht, atmete ich erleichtert auf nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn jemand einen dieser drei Gegenstände neben dem toten Sicherheitsdienstleiter des O’Halloran Tower gefunden hätte.
Kaum hatte ich den Knopf mit dem Abwärtspfeil gedrückt, ging ich zu Boden. Meine Beine hatten ganz offensichtlich genug und verweigerten mir nun endgültig den Dienst. Nach einer langen Fahrt hielt der Aufzug schließlich an, und ich blickte durch die geöffneten Türen in eine Personaltoilette. Vor mir stand ein kahlköpfiger Mann im schwarzen Anzug, der sich gerade die Hände wusch. Als er mich im Spiegel über dem Waschbecken bemerkte, fuhr er blitzartig herum und bespritzte sich durch den Schreck von Kopf bis Fuß mit Wasser. „Grundgütiger!“, stammelte er und schien zur Salzsäule zu erstarren.
Nach einigen Augenblicken hatte er sich wieder gefangen und hastete mit großen Schritten auf den Fahrstuhl zu, um die sich schließenden Türen offen zu halten. Dabei lehnte er sich so weit in die kleine Kabine, dass mir seine rote Seidenkrawatte ins Gesicht baumelte. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miss? Ich bin Marty von der Rechnungsabteilung. Arbeiten Sie hier?“
Ich versuchte zu antworten, aber meine Zunge war so blutverklebt, dass ich ein paar Versuche brauchte, um ein schwer verständliches „Könnten Sie mir … aufhelfen?“ herauszuwürgen.
Mühevoll kämpfte ich mich mit Martys Hilfe wieder auf die Beine. „Mein Gott … das ist ja schrecklich!“, presste er hervor und glotzte mich an, als sei ich einem Horrorfilm entsprungen. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie hier warten, während ich die Polizei rufe.“
„Keine Polizei!“, brummte ich und stützte mich mit einem Arm an der Wand ab. „Ma’am, so wie Sie aussehen, müssen Sie aber Anzeige gegen den Mistkerl erstatten“, mahnte Marty mich empört, woraufhin ich ihm mit einem Kopfschütteln klarzumachen versuchte, dass es sinnlos war. Ich wusste nur allzu gut, dass Seamus mich nicht nur wegen Hausfriedensbruch drankriegen würde, wenn diese Sache herauskam.
„Lassen Sie mich einfach gehen“, bat ich Marty mit zitternder Unterlippe. Noch immer schmerzte jedes Wort, und in meiner Seite machte sich ein Stechen breit, das unmissverständlich auf ein paar gebrochene Rippen hindeutete.
Trotz Tausend-Dollar-Anzug und handgefertigter Seidenkrawatte wirkte Marty absolut hilflos, als er mit fassungsloser Miene zur Seite trat, um mich aus der Toilette humpeln zu lassen. Auf dem Flur folgte ich dann den EXlT-Schildern, als seien sie Leuchttürme, die mich in den sicheren Hafen führen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit und Tausenden
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