Nocturne City 02 - Blutfehde
Ziele verfolgte. Trotz dieser offensichtlichen Unterschiede standen sich beide Gruppen in ihrer Hinterhältigkeit und ihrer Verschlossenheit gegenüber Außenseitern jedoch in nichts nach.
Obwohl ich mir mittlerweile relativ sicher war, dass ich den Verantwortlichen für die Morde an Vincent Blackburn und Benny Joubert in der Familie der O’Hallorans finden würde, war mir nach wie vor unklar, wie der Täter diese Morde begangen hatte – und diese Ungewissheit bereitete mir langsam, aber sicher ernsthafte Kopfschmerzen.
Vor mir versperrten hupende Taxis und aufgebrachte Fußgänger Straße und Fußweg, sodass ich auf die Devere Street auswich. Wenig später erhob sich auf der linken Seite die Nocturne University, deren schwarze Mauern sogar in der Sonne bedrückend wirkten. Erst jetzt merkte ich, dass ich am ganzen Leib hüstelte. Die Devere Street war eine Nord-Süd-Verbindung, auf der zu jeder Jahreszeit ein kalter Wind zwischen den alten Gebäuden die Straße hinunterfegte.
„Hätten Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich, Ma’am?“, riss mich die Frage eines Obdachlosen, der urplötzlich mit einem vollgemüllten Einkaufswagen vor mir aufgetaucht war, aus meinen Gedanken. Wortlos reichte ich ihm eine Dollarnote, die er sogleich in die Tasche seines zerfledderten Mantels stopfte. „Danke“, murmelte der Mann. „Eigentlich brauchte ich Ihr Geld ja gar nicht, Ma’am, aber der Wylie, der hat mir heute Morgen die Pulle geklaut. Würde ihm gegen seine Arthritis helfen, hat er gemeint. Verdammter Idiot …“ Ohne weiter auf den Alten und sein nicht enden wollendes Gezeter über die mannigfaltigen Charakterschwächen von Wylie einzugehen, setzte ich meinen Weg in Richtung Universität fort und gab mich wieder meinen Gedanken hin.
Shelby hatte erwähnt, dass ihre Verwandten den Blackburns vor langer Zeit etwas gestohlen hatten. Vielleicht war es ein Spruchbuch gewesen – eine dieser Sammlungen von Zaubersprüchen, die sich die Hexen einprägten und danach verbrannten? Es konnte sich aber genauso gut um einen Gegenstand handeln, der den Bluthexen als Fokus gedient und ihnen die Anwendung der Dämonenmagie ermöglicht hatte. Was immer es auch gewesen sein mochte – die O’Hallorans schienen jetzt damit ihr Unwesen zu treiben. Ich war mir sicher, dass zwischen den Morden und dem gestohlenen Gegenstand eine enge Verbindung bestand. Würde ich den einen Teil des Rätsels lösen können, wäre auch der andere Teil schnell aufgeklärt; davon war ich so überzeugt, dass ich wahrscheinlich sogar mein gesamtes Jahresgehalt darauf verwettet hätte. Aber wer würde schon ernsthaft um meinen mickrigen Lohn wetten wollen …
Derart in Gedanken versunken, stellte ich den Kragen meiner Jacke auf, um mich gegen den frischen Septemberwind zu schützen, und ging hinüber zum Eingang der Universität.
Im Gebäude der Fachbereichsbüros war es fast so kalt wie auf der Straße. Irgendwo am Ende des Flurs zischten ein paar Heizkörper vor sich hin, die die Temperatur aber nicht merklich zu beeinflussen vermochten. Um mich etwas aufzuwärmen, entschied ich mich gegen den Fahrstuhl und lief stattdessen lieber sportlichen Schritts die Treppe hinauf. Im zweiten Stock angekommen, steuerte ich zielstrebig auf die Bürotür mit der Aufschrift „JACOB HOSKINS – MYTHOLOGIE“ zu, die mir schon durch vorherige Besuche wohlvertraut war, und klopfte.
„Wer ist da?“, rief Hoskins mit grundlos angespannter Stimme. Ich hatte den Professor während des Duncan-Falls nicht nur als äußerst unruhiges Nervenbündel, sondern auch als eine von Grund auf ehrliche Person kennengelernt. Wenn man bei der Polizei in Nocturne City arbeitete, traf man solche Menschen ebenso selten wie jungfräuliche Callgirls. Wahrscheinlich war das auch der Grund gewesen, warum ich ihn trotz einiger kleiner Anlaufschwierigkeiten relativ schnell ins Herz geschlossen hatte.
„Ich bin s, Herr Professor, Detective Wilder.“ Ich hatte mittlerweile gelernt, dass ich nicht einfach so in sein Büro stürmen durfte, da er sonst sofort den Alarmknopf gedrückt hätte oder mit einem Herzinfarkt zu Boden gegangen wäre. Außerdem hatte ich bei meinem letzten Besuch versprochen, ihn nie wieder zu behelligen. Es gab also eine ganze Reihe von Gründen, lieber behutsam vorzugehen.
„Wilder. So, so …“, hörte ich Hoskins murmeln. Leisen Schritts kam er zur Tür und öffnete sie gerade weit genug, um vorsichtig durch den Spalt linsen zu können.
„Hallo, Herr
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