Nocturne City 02 - Blutfehde
Philosophieabteilung KAFKA NIETZSCHE. Nachdem die Bibliothekarin die Glastür aufgeschlossen und mich hineingebeten hatte, reichte sie mir ein Paar weiße Baumwollhandschuhe. „Ziehen Sie die bitte an, während Sie hier arbeiten, und wenn Sie eins der Bücher lesen wollen, legen Sie es erst ganz flach auf den Tisch. Falls Sie noch irgendetwas brauchen sollten, melden Sie sich einfach bei mir, Detective. Übrigens, meine Name ist Lauren.“ Sie blinzelte erneut. „Soll ich Ihnen meine Daten für die Fallakte jetzt schon geben oder lieber später?“, fragte sie mit strahlenden Augen.
„Eigentlich muss ich Ihre Daten nur aufnehmen, wenn Sie Zeugin eines Verbrechens geworden sind“, antwortete ich nüchtern.
„Nun, äh … vor zwei Wochen hat jemand die Übersetzung eines sumerischen Texts aus dem Präsenzbestand gestohlen“, berichtete sie empört.
„Wirklich? Aus dem Präsenzbestand? Mein Gott, ich sags ja immer wieder: Die Welt geht langsam, aber sicher vor die Hunde!“, erwiderte ich und rang mir mit Mühe einen entsetzten Gesichtsausdruck ab. Dann schloss ich die Glastür vor ihrer Nase und nickte der sichtlich enttäuschten Lauren noch ein Danke zu.
Die Handschuhe waren natürlich nicht wirklich aus Baumwolle, sondern aus irgendeiner Spezialfaser gefertigt, um die Bücher besser vor den schmutzigen Fingern der Besucher zu schützen. Sie juckten erbärmlich. Ich beschloss daher, den Zeitaufwand für meine Recherchen in Grenzen zu halten, und machte mich sofort daran, die ordentlich bestückten Regale nach irgendetwas Brauchbarem zu durchforsten.
Nach Menge und Qualität der Sammlung zu urteilen, waren die Blackburns eine für damalige Verhältnisse sehr belesene Familie gewesen. Bei den meisten Büchern handelte es sich um hochwertige Ausgaben mit Ledereinbänden, zwischen denen mich neben Dickens und Verne sogar ein Werk von Stoker befand. In einem der unteren Fächer zog eine Reihe aufwendig gebundener Bände ohne Rückenbeschriftung meine Aufmerksamkeit auf sich. Vorsichtig nahm ich den vordersten Band aus dem Regal und starrte überrascht auf den geschmackvoll gestalteten Buchdeckel, auf dem in schwungvoller Handschrift BLACKBURN FAMILY DIARIES geschrieben stand.
„Bingo“, murmelte ich erfreut, denn offensichtlich hatte ich soeben die Tagebücher der Familie Blackburn entdeckt. Im ersten Band waren ausschließlich Geschäftsaufzeichnungen zu linden. Seiten voller Handelswaren, Bestandslisten und Notizen über den An- und Verkauf sowie das Schlachten von Vieh reihten sich scheinbar endlos aneinander.
Auf der Innenklappe des zweiten Bands wurde der Leser in kursiver Schrift darauf hingewiesen, dass es sich um das persönliche Eigentum von Theodore Lucius Blackburn handelte. Ich legte das Buch vorsichtig auf dem Tisch ab und blätterte neugierig zum ersten Eintrag vor.
18. Juni 1886
Meine Frau hat dieses Buch auf dem Markt für mich gekauft und es mir mit der Bemerkung überreicht, dass ich das vorherige zur Genüge mit langweiligen Notizen zu meinen Geschäftstätigkeiten gefüllt hätte. Anscheinend glaubt sie, dass ich meine Gedanken für die Nachwelt niederschreiben sollte. Obgleich es mir selbst nie in den Sinn käme, dass irgendjemand einmal einen Nutzen daraus ziehen könnte, hat mich ihre Geste sehr berührt.
Der vor mir liegende Band umfasste die minutiösen Aufzeichnungen über die folgenden zwei Jahre, in denen Blackburn neben Afrika und der Karibik auch China bereist hatte. An ein oder zwei Stellen schrieb er zwar auch etwas über Kreise und Mondphasen, aber ein mit der Familiengeschichte nicht vertrauter Leser hätte anhand dieser Einträge niemals erahnt, dass Theodore Blackburn ein mächtiger Bluthexer gewesen war. Wahrscheinlich hatte Blackburn detaillierte Ausführungen zu seinen Blutzaubern bewusst unterlassen, um zu verhindern, dass allzu neugierige Hausangestellte die Kunde von den dunklen Machenschaften ihres Arbeitgebers verbreiteten. Wer wollte seine Waren schon gern von einem Schwarzmagier kaufen?
13. Februar 1889
Mit dem Dampfer Star of Shanghai nach San Francisco unterwegs. Von dort aus dann endlich nach Hause. Es schmerzt mich, dass ich diesen Valentinstag ohne Gertrude verbringen werde. Durch meinen raschen Aufbruch aus dem Orient habe ich seit Wochen nichts mehr von ihr gehört.
An dieser Stelle muss ich entgegen sonstiger Gewohnheit über eine Sache berichten, die ich niemandem außer diesen stummen Seiten anzuvertrauen wage. In Peking erwarb ich einen
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