Nocturne City 03 - Todeshunger
Worten klang das bittere Gift der Enttäuschung mit. Auch wenn ein zufälliger Beobachter behauptet hätte, er spräche völlig leidenschaftslos über seinen Bruder, bemerkte ich sehr wohl, dass sein Gesicht bei diesem Thema leicht zuckte.
Die Hand an meinem Hals war kälter, als ich erwartet hatte, und leicht schrumpelig vom Abwaschwasser. Sie verströmte einen Zitronengeruch, der sich über die charakteristische Mischung aus rostigem Metall und Rauch legte. In meiner Hilflosigkeit angesichts dieser verfahrenen Lage hätte ich mich am liebsten in seine Arme geworfen.
»Du hast nichts von ihm gehört? Gar nichts?«
»Das habe ich doch eben gesagt – kein Anruf, keine Postkarte, kein Brief, einfach gar nichts.«
Oh mein Gott, ist das schwer, fuhr es mir durch den Kopf. Die Nachricht vom Tod eines Familienangehörigen überbringen zu müssen sollte in der Hölle als Foltermethode für besonders skrupellose Zeitgenossen eingeführt werden, aber unter keinen Umständen – wie in meinem Fall – Teil einer Stellenbeschreibung sein.
»Lucas, es gibt einen Grund, warum du in letzter Zeit nichts von Jason gehört hast.«
In meiner Erinnerung spulte sich noch einmal die Begegnung mit dem jüngeren der Kennuka-Brüder ab: Mit gleichgültiger Miene hatte er mir in die Augen geschaut und sich dann in die Tiefe gestürzt.
»Es tut mir leid, Lucas«, wisperte ich. »Dein Bruder … ich habe sein Gesicht auf den Familienbildern wiedererkannt, weil er bei uns als John Doe, als unidentifiziertes Todesopfer, geführt wird. Jason ist tot. Tut mir leid.«
Er nahm die Hand von meiner Schulter, streckte den Arm aus und stützte sich am Fairlane ab. Der Schock der Nachricht hinterließ einen Schatten des Grauens auf seinem Gesicht. Er blinzelte ein paarmal und fragte schließlich: »Warum …?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Ich hatte eigentlich gehofft, du könntest es mir sagen.«
Lucas schüttelte den Kopf und wandte den Blick von mir ab. »Jason hätte nie … wer hat ihn getötet?«
Ich holte tief Luft. »Es war kein Mord. Jason hat sich von einem Wohnhaus gestürzt. Sein Leichnam ist immer noch in der Gerichtsmedizin.«
»Oh …« Es schien, als entweiche in diesem Augenblick die gesamte Luft aus seinen Lungen. »Ich gehe jetzt besser rein.«
»Nein. Warte!« Als ich seinen Arm ergriff, um ihn zurückzuhalten, brummte er leise. »Würdest du … ich meine, wenn du dich besser fühlst … würdest du in die Stadt kommen und mir ein paar Dinge über Jason erzählen?«
»Das geht nicht«, wisperte Lucas. »Wegen des Abkommens. Wenn ich einem Werwolf begegne, der sich noch daran hält, kann er mich auf der Stelle erledigen.«
»Von mir erfährt niemand etwas, wenn du es niemandem sagst«, sagte ich. »Ich gebe dir mein Wort, dass dir nichts geschehen wird, wenn du mit mir zusammen in der Stadt bist. Es wäre nur für ein paar Stunden. Was meinst du?«
Lucas seufzte noch einmal und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. Als er sie wieder wegnahm, leuchteten immer noch ein paar kleine rote Flecken auf seinen Wangen. »Na gut. Ich werde kommen und mich um die Leiche kümmern. Alles andere musst du dir aus dem Kopf schlagen. Ich kann dir nicht helfen. Meine Leute brauchen mich. Ich muss mich um sie kümmern, verstehst du?«
Ich nickte. »Ich finde selbst den Weg zum Highway zurück. Noch mal danke für das Essen, Lucas. Es tut mir leid, wirklich sehr leid wegen Jason.«
»Er war mein Bruder …«, flüsterte er, als ich bereits im Wagen saß und den Motor anließ. »Ich kann nicht glauben, dass …«
Als ich losfuhr, warf ich noch einen Blick in den Rückspiegel. Sicher, Lucas war wütend und trauerte – aber seine Überraschung hielt sich doch in Grenzen. Seine Fassade war zwar recht überzeugend gewesen, doch ich war mir sicher, dass er etwas von der Sache gewusst hatte, noch ehe ich überhaupt mit dem Thema anfing. All das bestürzte Blinzeln, das schwere Seufzen und die tiefen Atemzüge waren Show gewesen. Menschen, die der Tod eines geliebten Angehörigen überrascht, verhalten sich normalerweise eher, als würden sie von einem Vierzigtonner überrollt. Sie machen dicht, schalten ab und setzen diese regungslose Maske auf, die es den Geschworenengerichten so schwer macht. Oft ist das die einzige Methode, um solch schwere Augenblicke zu überstehen. Bei Lucas war von alledem nichts zu bemerken.
Möglicherweise hatte er Angst. Vielleicht war sein Bruder tatsächlich mit den Wendigos herumgestreunt, auf
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