Nocturne City 03 - Todeshunger
kamen zum Vorschein und kratzten mit schrillen Geräuschen am Glas entlang.
Ich trat zurück. Ohne dass ich es merkte, hatte die Wölfin für einen Sicherheitsabstand zu dem gereizten Wendigo gesorgt. »Lucas?«
»Das ist er«, entgegnete er mit flacher Stimme. »Das ist mein Bruder.«
»Danke, wir sind fertig«, murmelte ich in die Sprechanlage, woraufhin der Assistent Jasons Gesicht wieder mit der Papierbahn abdeckte.
»Das war’s«, sagte ich zu Lucas. »Alles in Ordnung?«
»Ich brauche frische Luft«, flüsterte er. Seine Zähne waren silberne Fänge, als er wie von der Tarantel gestochen aus dem Besucherraum stürmte.
»Mist«, murmelte ich vor mich hin, als die Tür hinter ihm zuschlug. »Lucas!«, rief ich, aber er hörte nicht auf mich, sondern hastete weiter. »Lucas, warte doch!« Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzurennen.
Als er im großräumigen Eingangsbereich ankam, wo Ambulanzen und Leichenwagen ihre traurige Fracht abluden oder aufnahmen, blieb er stehen und beugte sich vornüber. Die Hände auf die Kniescheiben gepresst schüttelte er sich und hustete heftig. »Ich konnte sein Blut riechen …«, keuchte er.
»Nein«, sagte ich. »Das war nicht nur sein Blut, sondern das vieler Leichen. Für Leute wie uns ist es immer schwer an solchen Orten. Dafür, dass es das erste Mal war, hast du dich wacker geschlagen.« Ich streckte die Hand aus, um über seinen Rücken zu streichen, zog sie aber gleich wieder zurück, denn ich musste an Dmitri denken. Jedes Mal, wenn ich durch Gebärden oder Worte andeutete, er könne nicht stark genug sein, um mit einer Situation allein fertigzuwerden, rastete er förmlich aus. Als ich aber sah, dass sein Hustenanfall einige schwarze Blutstropfen auf die Laderampe geschleudert hatte, wurde mir klar, dass vor mir Lucas und nicht Dmitri stand. Vorsichtig streckte ich nochmals meine Hand aus und streichelte ihn zwischen den Schulterblättern.
»Du hustest Blut. Augenscheinlich geht es dir ganz und gar nicht gut. Ich bringe dich lieber weg von hier.« Statt zu antworten, stieß er einen Klageschrei aus – einen einzigen trockenen Laut. Das war alles, was er sich zugestand. Dann waren seine Augen wieder die seinen, und sein Husten ließ nach.
»Weißt du, als ich noch ein dummer Teenager war, habe ich viel Quatsch gemacht. Einmal bin ich in einer Gaststätte hinter der Staatsgrenze versackt und bekam Probleme mit einer Bande Neonazis. Kein Problem eigentlich, dachte ich -wenn es Schwierigkeiten gibt, verwandle ich mich einfach und nehm die Typen auseinander. Aber Jason kam herein und sagte: ›Denk darüber nach, was mit dem Clan passiert, wenn du jetzt dein wahres Ich zeigst. Falls das Geheimnis herauskommt, stecken wir alle bis zum Hals in der Patsche.‹«
Lucas rieb sich die Augen. »Dann drehte er sich zu den Rocker-Arschlöchern um und sagte: ›Wenn ihr euch mit ihm anlegt, legt ihr euch auch mit mir an, und glaubt mir, Leute, die geballte Kraft der Kennuka-Brüder ist etwas, was ihr Hohlbirnen lieber nicht kennenlernen wollt.‹« Er seufzte. »Bis er ging, gab es keinen Tag, an dem wir nicht miteinander sprachen. Er war mein Bruder, verstehst du?«
Ich kauerte mich neben Lucas und legte meine Arme um ihn. »Ich weiß, und er war ein guter Bruder«, flüsterte ich. Nach kurzer Überlegung, wie ich das Thema am besten anpacken könnte, ohne als Feigling oder herzloses Miststück zu gelten, fügte ich hinzu: »Lucas, es sind ein paar Dinge über Jason herausgekommen, die ich dir mitteilen muss.«
»Gut«, entgegnete er.
Ich nahm die Hände von seinem gut gebauten Körper und fischte ein Taschentuch aus meiner Hosentasche. »Hier.«
Lucas wischte sich das Blut vom Kinn. »In ein paar Minuten geht’s mir wieder besser, du wirst sehen. Habe mir anscheinend irgendwas eingefangen. Grippe oder so.«
»Grippe, ja?«, brummte ich skeptisch. »Magst du mexikanisches Essen?«
»Ich bin hungrig«, entgegnete er abwesend, wobei seine Augen wieder hell aufblitzten. »Ich meine, ja. Mexikanisch ist gut, aber wozu die Heimlichtuerei? Ist das, was du mir sagen willst, etwa so unerhört, dass du Angst hast, ich könnte ausflippen und dir eine Szene machen?«
Ich schloss die Augen und seufzte. »Nein … es sind nur ein paar Dinge, die du von mir hören solltest. Von jemandem, der deine Lage nachempfinden kann, verstehst du?«
Lucas nickte nachdenklich. »Ja, gut. Ich muss mich aber erst um die Beerdigung kümmern. Können wir uns heute Abend
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