Nocturne City 03 - Todeshunger
konnte.
»Sunny, bist du sicher, dass wir hier weiterfahren sollten?«, fragte ich alarmiert.
»Nein, ab hier geht es nicht mehr weiter«, entgegnete sie. »Wir werden den Rest laufen müssen.«
Wir hielten unter dem Appleby Expressway an; von einem Stahlträger tropfte rostiges Wasser auf die Motorhaube – doch außer den Tropfgeräuschen war es gespenstisch still.
»Wo sind wir?«, fragte ich. Beim Aussteigen stieg mir sofort der auffallende Geruch der Bucht in die Nase, der sich mit den Autoabgasen mischte. Es lag aber noch eine andere Note in der Luft, die irgendwie nach Magie roch – aber leider nicht nach der guten Sorte.
»Das ist Undertown«, antwortete Sunny. »Großmutter hat mich mal hierher mitgenommen, nachdem du weggelaufen warst. Ich muss so um die vierzehn gewesen sein.«
»War sicher ein toller Ausflug, was?«, fragte ich spöttisch. »Habt ihr euch T-Shirts im Partnerlook gekauft?«
»Nein. Eigentlich waren wir nur hier, weil wir nach dir gesucht haben«, antwortete Sunny kurz, während sie das Cabrio abschloss.
Zügig ging sie das verrottete Dock entlang und steuerte auf eine Ansammlung von Häusern zu, die Anfang des letzten Jahrhunderts sicher noch florierende Geschäfte beherbergt hatten. Inzwischen war die Gegend jedoch heruntergekommen: Die abgeblätterten Fassaden der kleinen Läden waren mit neonfarbenen Reklametafeln bedeckt, das dazwischenliegende Mauerwerk mit bunten Wandbildern übersät. Die Motive reichten von Mariendarstellungen bis Duran Duran.
»Warte, was hast du gerade gesagt?«, rief ich ihr verärgert nach. »Sunny, komm zurück!« Ich rannte, um mit ihr Schritt halten zu können, bereute es aber gleich wieder, da meine Wunden abscheulich zu schmerzen begannen. »Was meinst du damit, ihr habt nach mir gesucht?«, stellte ich sie zur Rede, als ich sie endlich eingeholt hatte.
»Ist doch ganz einfach: Großmutter und ich sind etwa sechs Monate nach deinem Abgang in die Stadt gekommen, um dich zu suchen. Eine Bekannte in Undertown hatte etwas von einer jungen Werwölfin gehört, aber die Spur führte ins Nichts. Es war aber trotzdem ein wirklich toller Ausflug: In Undertown fasste ich nämlich zum ersten Mal den festen Entschluss, eine Casterhexe zu werden – und zwar unabhängig davon, ob mich Rhoda weiter ausgebildet hätte oder nicht.«
»Ich persönlich hätte wohl die Variante ›oder nicht‹ bevorzugt«, murmelte ich, um die Beklemmung zu überspielen, die sich plötzlich in mir aufgetan hatte. Nach meiner Flucht von Zuhause hatte ich nicht erwartet, je wieder etwas von meinen Eltern zu hören, geschweige denn Kontakt mit ihnen zu haben. Meine Mutter hatte schon Jahre zuvor die Realität gegen eine angenehme Illusion eingetauscht, und mein Vater war Tag für Tag so tief in seine Bierflaschen gekrochen, dass er höchstwahrscheinlich gar nicht mitbekommen hatte, dass ich weg war. Überraschenderweise hatte mich Sunny eines Tages aufgespürt und war zu mir in die Stadt gezogen. »Das hast du mir nie erzählt«, sagte ich laut.
»Jetzt schon«, entgegnete Sunny. »Wie dem auch sei, als in den Fünfzigerjahren der Expressway gebaut wurde, hat man diesen Teil von Waterfront einfach aufgegeben. Hier lebten vor allem spanischstämmige und chinesische Familien, die alle mit Magie zu tun hatten. Sie wollten ihre Häuser nicht verlassen, nur weil man ihnen den Himmel über den Köpfen zugebaut hatte. So sind sie geblieben, und ehrlich gesagt, kann ich s ihnen nicht verdenken.«
»Warum habe ich noch nie etwas davon gehört?«, fragte ich überrascht. »Ich kenne Ghosttown und all die anderen dunklen Orte dieser Stadt wie meine Westentasche – oder besser gesagt wie meine Schuhsammlung! Ich weiß selbst in den schmierigsten Vierteln, wo man den appetitlichsten Cheeseburger, die besten Kellerbars und die preiswertesten Jeans-Plagiate findet. Wie konnte ich da nichts von einer Hexenkolonie unter einem Freeway wissen?«
Sunny klopfte mir verständnisvoll auf die Schulter. »Du weißt eben nicht alles, Luna.« Sie wies auf eine Bodega, deren Front mit einem blau-grünen chinesischen Drachen verziert war. Die Farben waren so kräftig, dass sie sogar im Halbdunkel unter der Brücke leuchteten. »Das ist der Laden, in dem wir letztes Mal waren. Eventuell erinnert sich die Inhaberin ja noch an mich.«
»Du glaubst gar nicht, wie erholsam es ist, mit einer Person unterwegs zu sein, die keine zwanzigseitige Feindesliste hat«, sagte ich. »Ist die Frau eine Hexe?«
»Nein«,
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