Nocturne City 03 - Todeshunger
haben Sie hier zurückgelassen, als sie die Stadt verließen?«
»Sind Sie taub unter der glänzenden Mähne, oder was ist los?«, schimpfte der Wendigo. »Das habe ich doch eben gerade gesagt!«
»Aber … das war vor über hundertzwanzig Jahren«, sagte ich.
Der Wendigo wühlte in den Taschen seines Mantels. Obwohl die Hitze mich unter meinem T-Shirt zum Schwitzen brachte, schien er zu frieren. Hastig zog er einen verrosteten Flachmann hervor und öffnete ihn. Der Geruch sauren, fauligen Blutes stieg mir in die Nase, als sich sein Kinn beim Trinken dunkel färbte.
»Sieh an, eine Werwölfin mit Geschichtskenntnissen. Toll!« Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und ließ sich auf einen Müllhaufen sinken, der hinter ihm an der Wand stand. »Geht jetzt. Ich bin müde.«
»Bitte, nur noch eine Minute«, bat ich und kauerte mich neben ihn. »Was können Sie mir über Wiskachee und über einen wilden Wendigo-Schamanen, der böse Magie wirkt, erzählen?«
Sunny musste ihren offenen Mund mit der Hand bedecken,
als der Wendigo einen Knochen aus der Tasche zog und begann, leidenschaftslos darauf herumzukauen.
»Der hungrige Gott, der verschlingt und vertilgt. Hat ein Clan mit Wiskachee zu tun, sind wir alle des Todes«, lautete die kryptische Antwort des Alten. Dann grunzte er, senkte den Kopf und schlang die Arme um seinen Körper. »Jetzt bin ich aber müde. Habe seit einem Monat nicht gejagt und gefressen. Wenn also nicht zufällig ein Junkie hier vorbeikriecht, muss ich noch eine ganze Weile mit meiner Flasche auskommen. Ich habe einfach nicht genug Energie, um euch Geistergeschichten zu erzählen.«
»Kann man diese Magie brechen?«, hakte ich nach.
»Sie gedeiht auf Zweifel. Wiskachee ergreift von den Achtlosen Besitz. Er nährt sich von ihrer Ignoranz«, erläuterte der Wendigo. »Um deine Frage zu beantworten, kleine Werwolfwelpe: Nein, es gibt keine Heilung für das, was euch plagt.« Sein Kauen verwandelte sich in ein langes, abgehacktes Husten – typisch für einen Tuberkulosekranken.
»Jetzt lasst mich in Ruhe mit eurem Werwolf-Abkommen, ich bin schließlich kein Informationsschalter.«
»Ich dachte, das Abkommen sei im gegenseitigen Einvernehmen geschlossen worden«, antwortete ich. »So hat es mir zumindest Lucas Kennuka erzählt.«
»Kennuka«, sagte der Wendigo. »Guter Name, bedeutet ›Eisenkiefer‹. Nein, das Abkommen ist nicht von uns. Sie kamen in einer Nacht wie dieser …« Der Alte begann zu frösteln und grub sich tiefer in seinen Mantel. »Heiß, aber trocken, im Sommer. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, also gab’s auch keinen Nebel. Wir hatten in einer weiter außerhalb gelegenen Siedlung gejagt, um Nischaka zum Weinen zu bringen.«
»Regengöttin«, flüsterte Sunny.
»Wäre ich auch allein draufgekommen«, brummte ich zurück.
Der Wendigo hustete wieder. »Die weißen Siedler dort schickten daraufhin eine Abordnung nach Nocturne, das ja auf unseren Begräbnisstätten steht. Sie hetzten so lange Leute gegen uns auf, bis Chopin mit seinen Männern kam. Sie hatten Fackeln und Winchesters, und als sie fertig waren, war da nichts mehr außer Asche und heißem Wind.«
»Aber Jeremiah Chopin war kein Werwolf«, wandte ich ein.
»Nein, aber die Rudel haben mit ihm getrunken und ihn in seinem großen Haus besucht. Als die Siedler forderten, gegen die Wendigos vorzugehen, kam das den Werwölfen gerade recht. Sie sahen ihre Stunde gekommen und verlangten von Chopin, die Stadt solle sich der Wendigos entledigen. Er musste tun, was sie verlangten. Andernfalls wäre er ein toter Mann gewesen.«
»Reden Sie weiter«, forderte ich den Alten auf und musste an die Schreie und das Leid in den brennenden Wendigo-Quartieren denken.
»Nachdem die Überlebenden eingekesselt waren, stellte man uns vor die Wahl: Option eins lautete, die Stadt zu verlassen und niemals zurückzukehren. Option zwei bestand darin, dass all unsere Männer auf der Stelle abgeschlachtet und unsere Frauen mit Werwölfen gepaart werden, sodass die Linien unserer Clans für immer ausgelöscht wären.«
»Sie hat man einfach zurückgelassen?«, fragte ich flüsternd.
»Ich hatte keine Freunde unter den Wendigos. Ich stimmte dafür, gegen Chopin zu kämpfen, statt wie geprügelte Tiere in die Nacht hinaus zu fliehen. Also haben sie mich zurückgelassen, damit mich die Werwölfe töten. Nachdem ich den Rudeln entfliehen konnte, bin ich untergetaucht.«
»Warum haben Sie Laurel Hicks geholfen?«, wollte ich
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