Nördlich des Weltuntergangs
angeboten, aber die wurden abgelehnt.«
Als Eemeli Toropainen zwei Jahre seiner Strafe abgesessen hatte, wurde in seiner Zelle ein zweiter Häftling untergebracht, ein dreißigjähriger Russe namens Igor Swerdlow, der verhaftet worden war, als er versucht hatte, illegal Dänemarks Seegrenze zu überqueren. Igor war mit einem Schlauchboot von Zelenogradsk aus gestartet, einem russischen Flottenstützpunkt an der Ostküste der Ostsee. Die letzten Jahre hatte er als angeworbener Obermatrose auf dem Zerstörer Rossija gearbeitet, der wegen mangelnder Wartung kurz davor war, zu versinken. Die Geldknappheit in der Flotte war so alarmierend, dass nicht einmal die Verpflegung gewährleistet war. Igor war zwei Wochen mit dem Boot unterwegs gewesen, und während der Zeit war er von siebzig auf fünfundvierzig Kilo abgemagert.
In den letzten Monaten waren Millionen Menschen aus dem Osten nach Dänemark und in die übrigen Länder Westeuropas geflüchtet, hauptsächlich Russen, aber auch eine große Anzahl von Ukrainern, Weißrussen, Polen, Rumänen und Bulgaren. Nirgendwo wurden noch Flüchtlinge aufgenommen, und alle, die unerlaubt über die Grenzen kamen, wurden interniert und in die örtlichen Gefängnisse gesteckt. So auch Igor, der darüber nur froh war. Er fühlte sich wesentlich besser, seit er in einem dänischen Gefängnis saß. Nun brauchte er nicht mehr um seinen Kopf zu fürchten, und es gab genug zu essen.
Doch bald nachdem Igor gekommen war, wurden im dänischen Strafvollzug die Bedingungen für ausländische Häftlinge verschärft. Das bekam auch Eemeli Toropainen zu spüren. Hatte das Mittagessen vorher Brot, Butter, Milch oder Buttermilch, Vorspeise, zwei verschiedene warme Gerichte und sogar noch Nachspeise beinhaltet, gab es jetzt nur noch eine Portion warmes Essen, zumeist dicke Dorschsuppe. Dazu gab es ein Stück Brot, aber keine Butter, und zu trinken gab es Magermilch oder Wasser. Die ausländischen Häftlinge durften nicht mehr an ihre Angehörigen schreiben, nicht mehr Radio hören und keine Zeitungen bestellen. Sie mussten sich ihre Informationen über die Außenwelt von den dänischen Mithäftlingen besorgen, und die waren nicht immer zuverlässig.
Einiges erfuhr Eemeli trotzdem über die Lage in Finnland. Dort gab es eine breite Streikbewegung, und in den größten Städten kam es zu Unruhen. Die finnische Wirtschaft geriet in eine immer schwerere Krise, viele Banken waren vom Staat übernommen worden, zahlreiche große Konzerne der Forstindustrie hatten Konkurs angemeldet und waren in ausländischen Besitz übergegangen. Es gab Hunderttausende von Arbeitslosen, und ein Teil der Beamten bekam nur noch die Hälfte des Gehalts ausbezahlt.
In den anderen Ländern Europas waren die Verhältnisse nicht besser. Die Europäische Union war in eine Währungskrise geraten, hauptsächlich wegen des Währungsverfalls in Deutschland. Die Ursache dafür waren die unerwartet langwierigen Wiederaufbauprobleme in Ostdeutschland sowie der Flüchtlingsstrom aus dem Osten Europas, der das Ausmaß einer Völkerwanderung angenommen hatte.
Im Herbst gab es im Gefängnis Alarm: Die Zellen wurden geöffnet und die Häftlinge aufgefordert, sich in Zweierreihen und im Laufschritt auf den von Mauern umschlossenen Hof und von dort in den engen Zivilschutzbunker zu begeben. Hunderte von Männern mussten drei Tage in dem dunklen Betonbunker hocken. Es gab kein Essen, nur abgestandenes Trinkwasser. Es stank ekelerregend, die Männer konnten kaum atmen, ihnen blieb nicht viel mehr, als unbeweglich auf dem Betonfußboden zu liegen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wilde Spekulationen machten die Runde. Viele vermuteten, ein Krieg sei ausgebrochen, aber am dritten Tag durften alle wieder den Bunker verlassen und erfuhren endlich, dass es in der Nähe von St. Petersburg eine Explosion in einem Kernkraftwerk gegeben hatte. Die radioaktive Wolke war auch nach Dänemark gezogen, und deshalb hatten die Häftlinge in dem unterirdischen Bunker sitzen müssen. Bei späteren Messungen in verschiedenen Teilen Europas wurde festgestellt, dass die Atomwolke abgesehen von St. Petersburgs unmittelbarer Umgebung auch die fruchtbaren südlichen Teile Finnlands und, mit wechselnder Windrichtung, Gebiete in Mitteleuropa verseucht hatte: Polen, Deutschland und Teile von Frankreich waren betroffen. Man schätzte, dass nahezu dreißig Prozent der Anbaufläche Kontinentaleuropas für mehrere Jahre unbrauchbar geworden war. Hunderte von Menschen waren
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