Nördlich des Weltuntergangs
Sie waren im Inneren einer Felshöhle sauber aufgestapelt und sorgfältig mit Fichtenzweigen abgedeckt, damit die Füchse der guten Ware nichts anhaben konnten. Die Russen hatten die Toten mit Lappenschlitten über die Grenze gezogen. Wie der Oberst sagte, war es ein riskantes Unternehmen gewesen. Die finnische Grenzwache war in diesen Tagen nur allzu leicht bereit, auf jeden zu schießen, der sich ohne Pass in der Grenzzone bewegte. Wenn er und seine Kameraden auch mit Toten unterwegs gewesen waren, wollten sie deswegen nicht selbst oben auf dem Stapel landen. Trotz der Gefahr, der sie bei der Arbeit ausgesetzt gewesen waren, konnte sich die Ausbeute sehen lassen, erklärte der Oberst stolz.
Später, beim Waschen und Einsargen der Körper, kamen den Finnen leise Zweifel, ob sie wirklich alle auf natürliche Weise gestorben waren. Auf entsprechende Fragen reagierten die beiden ehemaligen KGB-Agenten ein wenig verlegen und erklärten, dass in diesen Zeiten in Russland kaum jemand eines natürlichen Todes starb. Wenn nicht die Verhältnisse das Leben verkürzten, fand sich immer jemand, der ein wenig nachhalf.
Jedenfalls wurde in einer Ecke des Friedhofes eine kleine russische Abteilung gegründet, in der die unglücklichen Bürger des Nachbarlandes beigesetzt wurden. Die Zeremonie war schlicht und würdevoll. Anschließend machte man dem Oberst und seinen Landsleuten jedoch klar, dass die Stiftung keine ausländischen Leichen aufkaufen, zumindest keinen Import von Leichen betreiben werde. Das schicke sich nicht. Im Statut der Stiftung sei dergleichen nicht vorgesehen. Außerdem dürfe laut finnischem Gesetz niemand ohne offiziellen Totenschein bestattet werden, und die russischen Leichen seien allesamt ohne ein einziges offizielles Dokument ins Land gebracht worden.
Die Russen waren schwer enttäuscht. Besonders verärgert waren die ehemaligen Agenten des Geheimdienstes. Sie sagten, sie seien der Meinung gewesen, die Leute am Ukonjärvi seien ernsthaft daran interessiert, ihren Friedhof zu füllen und den schlechter gestellten Toten des Nachbarlandes zu helfen. Sie erklärten, sie wollten nun nach Schweden gehen, da man ihnen hier am Ukonjärvi keine geeignete Aufgabe bieten könne, jedenfalls keine, für die sie langjährige und solide Erfahrungen mitbrachten. Daraufhin übergab man ihnen Rucksäcke mit Proviant und schickte sie in die Loipe, wo sie sich in westliche Richtung wandten.
Zurück blieben drei Russen: Oberst Arkadi Lebedew und seine beiden Kameraden aus Archangelsk. Für Letztere fand sich ohne weiteres eine passende Arbeit, nur einen Oberst der russischen Bodentruppen richtig einzusetzen war schwer. Lebedew wollte sich in der Partisanenkompanie verdingen, doch Feldwebel Sulo Naukkarinen lehnte das Angebot ab und erklärte, dass er in seiner Truppe keine ausländischen Offiziere aufnehmen wolle. Außerdem wäre es unnatürlich, wenn ein Feldwebel einen Oberst befehligte.
Im Frühjahr fand sich endlich auch für Arkadi Lebedew eine nützliche, ihn selbst befriedigende Beschäftigung. Er wurde Hirte der Bullenherde, die mehrere Dutzend Tiere umfasste.
Sowie die Bullen ihren Stall am Hiidenvaara verließen und nach draußen auf die Weide getrieben wurden, trat der Oberst seinen Dienst an. Er funktionierte seine ehemalige Uniform zum Hirtenanzug um. Anstelle der Hirtenflöte wünschte er sich ein Saxofon, denn dieses Instrument hatte er einst bei seinen Reisen durch Finnland leidlich zu spielen gelernt. Und tatsächlich fand sich im Konkurswarenlager von Kajaani ein entsprechendes Exemplar in akzeptablem Zustand, das gegen eine geräucherte Elchkeule eingetauscht wurde.
Von nun an polierte der Oberst jeden Morgen vor Arbeitsantritt sorgfältig seine Offiziersstiefel und sein Saxofon. Dann saß er auf der Wiese hinter dem Hiidenjärvi in der warmen Morgensonne auf einem Baumstumpf und spielte auf seinem Instrument; die Bullen versammelten sich, um den wehmütigen, russisch angehauchten Klängen zu lauschen. Die misstrauischen Bären und Wölfe dagegen hielten sich fern und ließen die Bullen in Ruhe. Raubtiere mögen keinen Blues.
24
In den Anfangsjahren des neuen Jahrtausends wurde am Hiidenvaara eine reguläre Volksschule eröffnet. Als Gebäude diente die zu eng gewordene ehemalige Kaserne der Partisanenkompanie, wobei die Räume zuvor gründlich renoviert wurden. Für die Rekrutenausbildung errichtete man ein neues Gebäude in Kalmonmäki. Die Schießbahn wurde in den Wald hinter dem
Weitere Kostenlose Bücher