Nördlich des Weltuntergangs
hätte ich etwas gerettet«, klagte Eveliina Mättö, eine Nordkarelierin, die ursprünglich aus Valtimo stammte. »Aber ich konnte nicht mal die Kaffeekanne mitnehmen, auch nicht die Konfirmationsfotos, das Silber, die Perlen, alles, alles musste ich zurücklassen.«
Die Zerstörung war vollkommener als im Krieg. Die Luftstreitkräfte des Bundesstaates bombardierten zwei Wochen lang die Stadt mit schweren Waffen, um zu erreichen, dass der brodelnde Müll ins Meer floss. Die letzten Wolkenkratzer wurden zu Schutt, das Feuer verbrannte alles, was noch übrig war, das Meer umspülte die rußigen Ufer. Üppige Weidenröschen und Weidengebüsche sollten später aus dem Gemisch von Morast und Asche sprießen, doch zunächst wurde das gesamte Stadtzentrum New Yorks und weite Gebiete der Peripherie zur verbotenen Zone erklärt. Ein hoher Zaun wurde um die zerstörte Stadt gebaut, das Betreten des Geländes verboten. Der Außenwelt teilte man mit, dass man beschlossen habe, die Stadt zu verlegen. Die Zensur erklärte, dass man aufgrund der nachteiligen Auswirkungen des übermäßigen Bevölkerungswachstums den Bürgern die Möglichkeit geben wolle, sich unter ökologisch günstigeren Bedingungen anzusiedeln. Die Autobahnen und Metrotunnel wurden am Rande der verlassenen Stadt gekappt, sie bekamen einen neuen Streckenverlauf, sodass sie »Most New York« umschlossen, das bald, weit von der ehemaligen Metropole entfernt, in die Höhe wuchs.
»Du liebe Zeit, was gab es dort für Mengen von Raben, you know«, erzählte Eveliina Mättö. »Sie flogen rum wie Mückenschwärme. Ich las in einer Zeitung, dass sie sich nachher bis nach Dakota ausgebreitet haben.«
29
In dem dichten Fichtenwald am Ufer des Flusses Tuohenjoki, der in den Südzipfel des Ukonjärvi mündete, befand sich das Winterquartier eines grimmigen alten Braunbären. Dabei handelte es sich übrigens um genau den, den Eemeli Toropainen auf der Rückfahrt von seiner Inspektion flüchtig gesehen hatte.
Es war der Spätfrühling 2014. Der Bär erwachte Ende Mai, als das Schmelzwasser in seine Höhle rann. Sein Hintern wurde nass. Ein solches Erwachen stimmt niemanden besonders positiv, selbst dann nicht, wenn der Frühling naht. Der Bär war im Alter recht schwach geworden, sodass er unter den Tieren des Waldes keine Beute mehr machen konnte. Die Hasen hoppelten davon, die Hühnervögel flogen schon hundert Meter vor ihm auf, die Rehe sausten mit Windgeschwindigkeit ins weite Moor. Der Bär musste sich damit begnügen, in Ameisennestern zu stochern und in den Sümpfen nach überjährigen Moosbeeren zu suchen.
Er hoffte trotzdem auf bessere Zeiten. Wenn erst das Gras wuchs, würden die Menschen das Vieh auf die Weide treiben, und er konnte sich ein ungeschicktes Kalb oder ein umherirrendes Schaf einverleiben.
Passenderweise wurde das Vieh von Ukonjärvi zu dieser Zeit auf die üppigen Waldwiesen am Tuohenlampi-See getrieben. Gehütet wurde es von der alten finnischen Auswanderin Eveliina Mättö. Sie war insofern eine verwandte Seele des früheren Hirten Arkadi Lebedew, als auch sie Musik liebte und genau wie er vorzugsweise amerikanische. Hatte der Oberst dem Vieh melancholischen Blues vorgespielt, sang Eveliina Mättö New Yorker Gospels. Die Tiere lauschten auch dieser Musik ernst. Da sie schon Bekanntschaft mit dem Blues gemacht hatten, klang ihnen der Gospelsound irgendwie vertraut.
Der alte Bär vom Tuohenjoki hingegen war kein Freund von Musik, eigentlich auch von nichts anderem. Übel gelaunt horchte er auf den krächzenden Gesang der alten Frau. Allerdings witterte seine Nase überaus leckeres Fleisch. Er schlich näher, um sich die Herde anzusehen.
Etwa hundert Tiere liefen auf der Weide herum, große Stiere, aber auch Kühe und Kälber. Der Bär plante, sich eines der Kälber vom Rande der Weide zu greifen, aber das singende alte Weib beunruhigte ihn. Um die alte Frau musste er sich zuerst kümmern, erst dann konnte er nach einem Kalb jagen. Einmal zupacken, und knacks, die Sache wäre erledigt, beschloss der Bär.
Kurz darauf fand im Wald am Tuohenlampi ein erbarmungsloser Kampf statt. Der Bär stürzte sich von hinten auf die alte Frau, die auf einem Baumstumpf saß, und wollte sie mit einem einzigen Schlag töten. Die Alte spürte jedoch die Gefahr, sie drehte sich um, schrie auf und wich zur Seite aus. Der Bär rannte vorbei, kehrte aber sofort wieder um.
Jetzt hatte die Alte einen Dolch in der Hand. Der Bär attackierte und schüttelte die
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