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Nördlich des Weltuntergangs

Nördlich des Weltuntergangs

Titel: Nördlich des Weltuntergangs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arto Paasilinna
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dranzuhängen. In der Nacht sahen die Feiernden, dass der Schädel an den Himmel gewandert und zu einem Stern geworden war, als Fortsetzung des Sternbildes Orion. In dieser Gewissheit fielen sie endlich auf dem Festplatz um.
    Am Morgen des vierten Tages kam der »Fliegende Engel« zum Hiidenvaara gerannt. Das arme schwachsinnige Mädchen war schrecklich aufgeregt. Sie versuchte die Schlafenden wachzurütteln, denn sie hatte eine riesige Neuigkeit:
    »Der dritte Weltkrieg ist ausgebrochen!«
    Die Botschaft kam nicht recht an. Die Leute lagen schnarchend auf dem Heideboden, unfähig, am Weltgeschehen Anteil zu nehmen. Eemeli Toropainen, der unter einem Wacholderbusch lag, hob den Kopf. Er sah das keuchende
    Mädchen aus glasigen Augen an.
    »Der dritte Weltkrieg? Tss…«
    Es war der 28. Juni. Hundert Jahre zuvor waren in Sarajewo Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin erschossen worden. Na und?

30
    Die Leute hatten den Kater des Jahrtausends. Die ganze Gemeinde Ukonjärvi lag halb tot auf dem Festhügel. Die Verderbtheit hatte so weit um sich gegriffen, dass sogar Feldpröbstin Tuirevi Hillikainen würgen und ihr Innerstes nach außen kehren musste. Eemeli Toropainen hockte im Schatten des Wacholderbusches. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt, das Herz schlug unregelmäßig, und ihm war, als hätte ihm eine starke und bösartige Kraft die Seele aus dem Leib gerissen. Die Nachricht, die der »Fliegende Engel« gebracht hatte, passte irgendwie zur Situation. Der Ausbruch des dritten Weltkrieges krönte gleichsam die allgemeine Katerstimmung.
    Aber nichts auf dieser Welt währt ewig, nicht mal ein Kater. Der Chef der Partisanenkompanie, Stabsfeldwebel Sulo Naukkarinen, inzwischen ein fast siebzigjähriger Veteran, ging der Sache mit dem dritten Weltkrieg nach. Er suchte ein altes Kurzwellenradio hervor und stellte es auf die internationalen Sender ein. Jawohl, die Nachricht stimmte, daraus zu schließen, dass von allen Sendern mit unerhörter Wucht Kriegspropaganda verbreitet wurde. Nachrichten in vielen Sprachen schwirrten durch die Atmosphäre, und pathetische Marschmusik zerriss den Zuhörern fast die Ohren. Dem Sprachengewirr war zu entnehmen, dass die regionalen Konflikte, die in den verschiedensten Teilen der Welt gewütet hatten, nun endlich hatten gebündelt werden können, sodass man mit gutem Grund vom dritten Weltkrieg sprechen konnte. Der Finnische Rundfunk spielte dementsprechend Sillanpääs Marschlied, zwischendurch wurden Anweisungen für den Zivilschutz gegeben. Ein lautes Geräusch, das sich anhörte wie das Rattern einer Motorsäge, störte das Programm. Offenbar sägte der transkontinentale Feind am Baum der Kriegsberichterstattung.
    Da sich Europa und somit auch Finnland im Krieg befand, rief Naukkarinen in Ukonjärvi ebenfalls den Kriegszustand aus. In der Praxis bedeutete das die verschärfte Bewachung der Gemeindegrenzen, die Einlagerung von Lebensmitteln und die Einberufung der jüngeren Reservisten zu zusätzlichen Übungen. Arkadi Lebedew und seine Landsleute wurden interniert und im Gefängnis von Rajakylä festgesetzt. Organist Severi Horttanainen, der schon allein wegen seines Alters zur Landwehr gehörte, wurde nach Kajaani geschickt, um Informationen darüber einzuholen, wie sich die finnische Armee zum dritten Weltkrieg verhielt. Die Fragen lauteten: Aus welcher Richtung erwartete man den Angriff des Feindes? Beabsichtigte Finnland zu kämpfen und wenn, mit welchem Einsatz? Wo wollte man angreifen, falls diese Alternative zur Debatte stand?
    Horttanainen war noch sehr agil, obwohl er inzwischen schon siebenundsiebzig war. Er kehrte nach ein paar Tagen aus Kajaani zurück und wusste zu berichten, dass die Brigade von Kainuu »irgendwohin« geschickt worden war, wohin genau, war Kriegsgeheimnis. Vermutlich in den Süden, auf die großen europäischen Kriegsschauplätze, etwa nach Polen, vermutete Horttanainen, oder gar in die Alpen oder auf den Balkan, so jedenfalls lauteten die Gerüchte, die in Kajaani im Umlauf waren. Unter Umständen rief die Verteidigung Europas die finnischen Soldaten sogar in die entfernten Ecken des Kontinents.
    In Kajaani herrschte insgesamt große Unruhe. Lebensmittel gab es in den Läden nicht mehr, alles war weggehamstert worden. Die Leute hatten Horttanainen gefragt, ob sie nach Ukonjärvi fliehen dürften, falls Kajaani bombardiert werde und es eine Hungersnot gebe. Horttanainen hatte gesagt, dass man keine Kriegsflüchtlinge aufnehmen könne, man habe

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