Nördlich des Weltuntergangs
Millionen Menschen aus dem Osten nach Dänemark und in die übrigen Länder Westeuropas geflüchtet, hauptsächlich Russen, aber auch eine große Anzahl von Ukrainern, Weißrus sen, Polen, Rumänen und Bulgaren. Nirgendwo wurden noch Flüchtlinge aufgenommen, und alle, die unerlaubt über die Grenzen kamen, wurden interniert und in die örtlichen Gefängnisse gesteckt. So auch Igor, der dar über nur froh war. Er fühlte sich wesentlich besser, seit er in einem dänischen Gefängnis saß. Nun brauchte er nicht mehr um seinen Kopf zu fürchten, und es gab genug zu essen.
Doch bald nachdem Igor gekommen war, wurden im dänischen Strafvollzug die Bedingungen für ausländi sche Häftlinge verschärft. Das bekam auch Eemeli Toro painen zu spüren. Hatte das Mittagessen vorher Brot,
Butter, Milch oder Buttermilch, Vorspeise, zwei ver schiedene warme Gerichte und sogar noch Nachspeise beinhaltet, gab es jetzt nur noch eine Portion warmes Essen, zumeist dicke Dorschsuppe. Dazu gab es ein Stück Brot, aber keine Butter, und zu trinken gab es Magermilch oder Wasser. Die ausländischen Häftlinge durften nicht mehr an ihre Angehörigen schreiben, nicht mehr Radio hören und keine Zeitungen bestellen. Sie mussten sich ihre Informationen über die Außenwelt von den dänischen Mithäftlingen besorgen, und die waren nicht immer zuverlässig.
Einiges erfuhr Eemeli trotzdem über die Lage in Finn-land. Dort gab es eine breite Streikbewegung, und in den größten Städten kam es zu Unruhen. Die finnische Wirtschaft geriet in eine immer schwerere Krise, viele Banken waren vom Staat übernommen worden, zahlrei che große Konzerne der Forstindustrie hatten Konkurs angemeldet und waren in ausländischen Besitz überge gangen. Es gab Hunderttausende von Arbeitslosen, und ein Teil der Beamten bekam nur noch die Hälfte des Gehalts ausbezahlt.
In den anderen Ländern Europas waren die Verhält nisse nicht besser. Die Europäische Union war in eine Währungskrise geraten, hauptsächlich wegen des Wäh rungsverfalls in Deutschland. Die Ursache dafür waren die unerwartet langwierigen Wiederaufbauprobleme in Ostdeutschland sowie der Flüchtlingsstrom aus dem Osten Europas, der das Ausmaß einer Völkerwanderung angenommen hatte.
Im Herbst gab es im Gefängnis Alarm: Die Zellen wurden geöffnet und die Häftlinge aufgefordert, sich in Zweierreihen und im Laufschritt auf den von Mauern umschlossenen Hof und von dort in den engen Zivil schutzbunker zu begeben. Hunderte von Männern mussten drei Tage in dem dunklen Betonbunker ho cken. Es gab kein Essen, nur abgestandenes Trinkwas ser. Es stank ekelerregend, die Männer konnten kaum atmen, ihnen blieb nicht viel mehr, als unbeweglich auf dem Betonfußboden zu liegen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wilde Spekulationen machten die Runde. Viele vermuteten, ein Krieg sei ausgebrochen, aber am dritten Tag durften alle wieder den Bunker verlassen und erfuh ren endlich, dass es in der Nähe von St. Petersburg eine Explosion in einem Kernkraftwerk gegeben hatte. Die radioaktive Wolke war auch nach Dänemark gezogen, und deshalb hatten die Häftlinge in dem unterirdischen Bunker sitzen müssen. Bei späteren Messungen in verschiedenen Teilen Europas wurde festgestellt, dass die Atomwolke abgesehen von St. Petersburgs unmittel barer Umgebung auch die fruchtbaren südlichen Teile Finnlands und, mit wechselnder Windrichtung, Gebiete in Mitteleuropa verseucht hatte: Polen, Deutschland und Teile von Frankreich waren betroffen. Man schätzte, dass nahezu dreißig Prozent der Anbaufläche Kontinen taleuropas für mehrere Jahre unbrauchbar geworden war. Hunderte von Menschen waren gestorben, und es wurde vermutet, dass die Zahl der Opfer in nächster Zeit auf Tausende, wahrscheinlich Zehntausende ansteigen würde.
Dies bedeutete, dass der Getreidepreis überall in der Welt in schwindelerregende Höhen klettern würde, denn zur selben Zeit durchlebte der mittlere Westen der USA bereits die dritte Dürreperiode. Für die Häftlinge in Ǻ rhus führte das Unglück zu noch schmalerer Kost als bisher. Eemeli nahm in seinem letzten Haftjahr fast zehn Kilo ab. Auch Igor gefiel es nicht mehr in Däne mark. Er begann seine Flucht aus dem Gefängnis zu planen, und war damit noch beschäftigt, als Eemeli Toropainen endlich seine Haft verbüßt hatte und entlas sen wurde.
Eemelis Ziel hieß jetzt Ukonjärvi, endlich! 13
Stiftungsdirektor Eemeli Toropainen saß an einem Märzmorgen
Weitere Kostenlose Bücher