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Nördlich des Weltuntergangs

Titel: Nördlich des Weltuntergangs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arto Paasilinna
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verurteilt worden, sondern man hatte sie einfach irgendwo aufgegriffen, und da sie verdächtig waren wie jeder Mensch, hatte man sie fürs Erste in eine Zelle gesteckt. Ein amerikanischer Geistli­ cher erzählte, dass er sechs Jahre zuvor nur deshalb in die Festung gebracht worden war, weil er damals noch kein Russisch konnte. Er hatte die Absicht gehabt, in Schlüsselburg eine Mormonenkirche zu gründen, war aber gar nicht dazu gekommen. Jetzt sprach er fließend Russisch, was ihm trotzdem nicht zur Freiheit verhalf. Ein Mann, der den Gefängnisslang sprach, konnte kaum als unschuldig gelten.
    Die Wärter waren freundlich, fast wohlwollend; denn ihnen taten die Häftlinge Leid, die in den öden Zellen schmachteten, nur konnten sie nichts an der Sache ändern. Sie reichten den Häftlingen täglich durch die kleinen Türluken eine magere Kohlsuppe und holten anschließend die Reste ab, die sie gewohnheitsmäßig über die Mauer aufs Eis der Newa kippten. Sie versuch­ ten auch, die verzweifelten Bittgesuche der Häftlinge zu befördern, auch wenn nie Antworten eingingen, denn es gab in der ganzen Stadt keine entsprechenden Behörden mehr. Die Gerichte waren nach Tihvin verlegt worden, dort befanden sich alle Richter und Polizeiinspektionen, dort wurden Fälle behandelt und entschieden. Aber St. Petersburg war St. Petersburg, und die Beamten von Tihvin betrachteten sich als nicht zuständig für den Strafvollzug der ehemaligen Großstadt. Sie hatten genug mit den eigenen Kriminellen zu tun, was man ihnen glauben durfte, denn die Verbrechensmafia von Tihvin war tatsächlich unerhört erfolgreich und grausam.
    Der spionierende Organist Horttanainen lernte Mit­ häftlinge der verschiedensten Nationen kennen. Er bekam ausgezeichnete Informationen über den Verlauf des dritten Weltkrieges und darüber, welche Staaten auf welcher Seite kämpften und welche Zerstörungen ent­ standen waren. Er erfuhr auch einiges über die Zustän­ de im weiten Russland, angefangen von den Ufern des Pazifik bis hin zum Eismeer. Schade nur, dass er nicht nach Hause zurückfahren und sein wertvolles Wissen weitergeben konnte, denn er saß in seiner Zelle in der Peter-und-Paul-Festung sicher verwahrt wie ein mehrfa­ cher Mörder oder ein Dissident. Es schmerzte ihn, an das heimatliche Ukonjärvi zu denken, wohin er keine der welterschütternden Nachrichten übermitteln konnte, die bald wieder veralten und im alles verschlingenden Fass der Geschichte versinken würden. Die Monate vergingen, die Jahre verrannen, und nichts geschah, abgesehen vom Fortdauern des dritten Weltkrieges.
    Im Sommer ergab es sich dann endlich so günstig, dass ein sibirischer Universitätsdozent starb. Severi wurde mit der Aufgabe betraut, die Leiche seines Mit­ häftlings hinauszuschaffen und auf den Eselskarren zu legen. Es war die Gelegenheit. Severi sprang zu der Leiche in den Karren und trieb die Esel an. Im Kugelha­ gel verließ er das Gelände und hetzte die wild geworde­ nen Tiere durch die Straßen, bis er an einer geeigneten Stelle vom Karren sprang und sich im verfallenden Labyrinth der verwaisten Stadt versteckte.
    Die Rückfahrt nach Finnland und hinauf in den Nor-den hatte länger als zwei Monate gedauert. Es war eine harte Tortur für den von der Haft geschwächten alten Mann gewesen, der Gedanke an die Freiheit hatte ihn am Leben und in Bewegung gehalten. Und nun war er zu Hause und brachte neue Informationen über die Zustände beim östlichen Nachbarn mit.
    »Ich muss sagen, dass mich Weltreisen nicht mehr sehr reizen«, lautete Severis stilles Fazit aus seinen Erfahrungen.
    Er holte eine kleines und schmuddeliges aufgerolltes Öltuch hervor, auf dessen Innenseite sich ein prachtvol­ les Gemälde befand. Es war Ilja Repins berühmtes Un­ erwartet.
    »Wenn mir jemand dafür einen Rahmen baut, dann wäre die Reise wenigstens nicht ganz umsonst gewesen«, sagte der Alte, während er melancholisch das Gemälde betrachtete.
    36
    Im Frühjahr 2017 verbreiteten sich Gerüchte, dass der dritte Weltkrieg zu Ende sei. Truppen waren nicht zu sehen, allerdings auch kaum Zivilpersonen. Die Gebiete hinter der Ostgrenze waren verwaist.
    Da hatte Eemeli Toropainen die Idee, eine Expedition ans Weiße Meer zu schicken, die die dortigen Fangmög­ lichkeiten prüfen sollte. Wenn es stimmte, dass es an den Ufern des Meeres keine Besiedelung mehr gab, könnte man dort gut mit Schleppnetzen fischen. Im Laakajärvi gab es zwar immer noch reichlich Fisch, aber da die

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