Noir
dass er sie überhaupt gehört hatte. In dem Nebel, der seinen Kopf erfüllte, wurden wichtige Zusammenhänge immer nur so weit sichtbar, dass er gerade annehmen konnte, dass es sie gab.
«Mona?»
«Ja?»
«Heißt du wirklich so?»
Ihr Lächeln war so offen, dass es sie nackt wirken ließ. «Mona ist der Name, den mir meine Adoptiveltern gegeben haben. Mein richtiger Name kommt wie ich aus Nigeria: Amoke.»
«Aha.» Was sollte er mehr dazu sagen? Er hatte immer gedacht, ihm würde nichts entgehen, er könnte in alle Menschen hineinblicken. Offenbar hatte er die wichtigsten übersehen.
«Ich muss zur Arbeit.»
«Natürlich. Wo arbeitest du?»
Er nannte ihr die Adresse. Amoke beugte sich nach vorne, dass sie dem Fahrer beinah auf den Schoß fiel.
«Du musst zu einem Kunstwarenladen», sagte sie fröhlich und sah dem alten Herrn in die Augen. Dann nannte sie ihm die Adresse.
«Aaah», machte der Alte. «Auweia. Das ist weit.»
«Nein. Es ist nicht weit. Du musst da hin.»
«Ja, ja. Da muss ich hin.» Er drehte das Lenkrad um hundertachtzig Grad und wendete mitten auf der Straße. Nino hörte das Quietschen von Rädern, gefolgt von wütendem Hupen. Er krallte sich an seinem Sitz fest.
Doch der erwartete Zusammenprall kam nicht. Nur Amoke ließ sich neben ihn fallen und schlug die Beine übereinander, dass einer ihrer hohen Absätze sein Knie streifte.
«Wuhuu», lachte sie. «Hoffentlich notiert niemand das Nummernschild!»
«Niemand notiert das Nummernschild», wiederholte der Fahrer wie einen Befehl.
Nino sah sie argwöhnisch an. Schließlich versiegte ihr Kichern, sie ließ die Schultern hängen. «Das Unbewusste anderer Leute berühren, ihre Wahrnehmung beeinflussen, das sind Dinge, die Mentoren können. Die du eines Tages auch können wirst. Natürlich muss jeder von uns verantwortungsvoll damit umgehen. Ich habe es getan, weil ich mit dir reden musste. Nirgendwo haben wir mehr Sicherheit als im Wagen eines Fremden, der sich nicht an uns erinnern wird.»
«Woran wird er sich denn erinnern?»
«An einen Vormittag, an dem die Zeit besonders schnell verstrichen ist.»
Nino betrachtete das, was er im Rückspiegel vom alten Mann erkennen konnte. Er war so konzentriert auf den Verkehr, dass er den Rest der Welt nicht wahrzunehmen schien. Sein Mund formte lautlose Worte.
«Er wird keinen Schaden davontragen. Sonst würde ich es nicht tun», sagte Amoke. Dann gluckste sie. «Es hat eher einen positiven Effekt auf die Leute! Er wird sich, sobald er uns losgeworden ist, so frisch und erholt fühlen wie nach einem wunderbaren Schlaf. Denn genau das ist es: ein Schlaf.»
Sie verfielen in Schweigen, während Amoke aus dem Fenster blickte und Nino den abwesenden Fahrer beobachtete, fasziniert und entsetzt zugleich. Als sie ein paar hundert Meter vor Olga Pegelowas Laden an einer belebten S-Bahn-Station vorbeikamen, rief Amoke plötzlich: «Anhalten!»
Sie bremste, dass Nino gegen seinen Gurt gedrückt wurde.
«Ich verabschiede mich hier», sagte sie eilig und öffnete die Tür. «Der Herr wird dich vor dem Laden rauslassen. Es könnte sein, dass er dir hineinfolgt. Er wird ein wenig verwirrt sein, wenn er zu sich kommt, aber du darfst ihn nicht beachten. Das würde ihn noch mehr verwirren. Ja? Also … bis demnächst.»
Sie sprang aus dem Auto und schlug die Tür zu. Der alte Mann gab Gas. Nino musste sich umdrehen, um noch zu sehen, wie Amokes wilde Mähne im Gedränge des Bahnaufgangs verschwand.
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JETZT
Und auch jetzt noch, ohne Finger, bald ganz ohne Gliedmaßen, frage ich mich: Hätte ich vor diesem Schicksal davonlaufen können? Wäre es zu einer anderen Version der Wirklichkeit gekommen, die mehr Hoffnung birgt, wenn ich … wenn der Tod … zu einem anderen Zeitpunkt …
Ich weiß es nicht.
Und mir fällt die Zunge ab.
JETZT .
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23 .
E r kam zu spät, aber Olga Pegelowa sagte nichts, als er den Laden betrat. Vielleicht war das eine Nachwirkung der Gedankenmanipulation von gestern.
Nervös spähte er durch das Schaufenster, wo der silberne Mercedes im Halteverbot stand. Der Fahrer hielt das Lenkrad mit beiden Händen umschlossen und starrte den Laden an. Zum Glück war er ihm nicht direkt hinterhergelaufen.
Nach etwa zwanzig Minuten schüttelte der alte Mann endlich den Kopf. Er schien verärgert, redete ein bisschen mit sich selbst und fuhr dann weg. Nino ließ sich gegen die Kassentheke sinken und seufzte erleichtert.
Auch wenn Amoke recht
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