Noir
sie ihm ein mulmiges Gefühl.
«Geh nach Hause. Ich denke, das tut dir gut.»
Er konnte es nicht fassen. Die Hypnose von gestern wirkte immer noch. Seine Hände begannen auf dem Tresen zu zittern. Er schloss sie zu Fäusten, um es zu verbergen.
War
es wirklich so unglaublich? Unglaublich war wohl eher, dass er diese Fähigkeiten vierundzwanzig Jahre lang besessen und
ignoriert
hatte. Die Welt stand Kopf. Wenn man das einmal einsah, machte alles spiegelverkehrt Sinn.
«Ja. Danke.» Vielleicht hatte er Olga Pegelowa dauerhaft hypnotisiert. Vielleicht hielt sie ihn einfach für verrückt und hatte Angst. Es war egal. Er schnappte seine Jacke. «Vielen Dank. Ich – ich liebe Sie!»
Vielleicht war es zu viel des Guten, ihr einen Handkuss zuzuwerfen. Aber er hatte sie wirklich gern, das sollte sie ruhig wissen, und wer wusste schon, ob sie sich je wiedersahen.
Eine federleichte Traurigkeit begleitete ihn aus dem Laden, während er begann, die Straße entlangzujoggen. Der Wind, der ihm entgegenschlug, roch nach Winter. Ihm wurde klar, dass auch seine Traurigkeit nichts anderes war als der Geruch böser Vorahnung.
Er hatte geglaubt, den ganzen Weg bis zur Wohnung rennen zu können, aber schon bald geriet er außer Atem. Schneller wäre er ohnehin, wenn er mit der U-Bahn führe.
Es war fast leer im Abteil, nur ein paar Leute bevölkerten die Sitzbänke. Ein Obdachloser kauerte mit einem Berg von Tüten in einer Ecke und hielt eine ganze Stange polnischer Zigaretten in der Hand, die er irgendwo gefunden oder gestohlen haben musste.
Nino fragte ihn, ob er eine Zigarette haben könnte. Der Mann blinzelte verdutzt, dass jemand ihn um etwas bat, zeigte sich dann aber spendabel und gab Nino Zigarette und Streichholz und bot ihm sogar einen Schluck Kräuterschnaps an, den Nino jedoch höflich ablehnte.
Er sog den Rauch langsam ein und spürte ihn in seinen Lungen wie Finger, die ihn streichelten, wie Finger in kratzigen Handschuhen. Alles kam ihm so klar und deutlich vor: die Geräusche der Bahn, der Geschmack der Zigarette, die Farben von Kleidern und Taschen der Fahrgäste. Als sie bei der Station hielten, bei der er aussteigen musste, nahm er einen letzten Zug, warf die Zigarette auf den Bahnsteig und lief eilig den restlichen Weg.
Wie eine optische Täuschung ragte am Ende der Straße das Gebäude auf, dessen Dachgeschoss Orin und Noir bewohnten. Die gläsernen Fensterfronten spiegelten den Himmel, als wollten sie sich tarnen und mit dem Hintergrund verschmelzen.
Weil er bis jetzt immer durch die Tiefgarage gekommen war, hatte er die Haustür noch nie gesehen. Sie war ein wenig versteckt an der Seite des Gebäudes, ein Quadrat aus schwarzem Glas. Die Firmenschilder neben den sieben Klingeln waren allesamt leer. Darüber hing eine glänzende Halbkugel, eine Kamera.
Er drückte die Klingelknöpfe durch. Als sich nichts regte, drückte er noch einmal eine Klingel nach der anderen. Dann merkte er, dass der Fokus in der Kamera sich veränderte. Die Linse öffnete sich langsam, geräuschlos, um näher an ihn heranzuzoomen. Er sah ins schwarze Loch und erwiderte den unbekannten Blick.
«Noir?», fragte er in die Gegensprechanlage. «Mach auf, ich muss mit dir reden!»
Ein Klickgeräusch kam aus dem Lautsprecher. Jemand hatte die Leitung geöffnet.
«Ich melde Sie bei Monsieur Samedi an. Bitte warten Sie, jemand wird Sie abholen.»
Nino wurde erst klar, dass die Stimme zu ihm gesprochen hatte, als die Leitung wieder abbrach. An den Klang der Stimme und ob es eine männliche oder weibliche oder überhaupt eine menschliche gewesen war, konnte er sich sonderbarerweise nicht erinnern. Auch der Sinn der Worte erreichte ihn nur mit Verzögerung.
Hier warten. Monsieur Samedi melden.
Ein Kribbeln lief ihm über den Rücken. Jean Orin musste annehmen, dass er sich für die Transplantation entschieden hatte. Er würde sich nicht anmerken lassen, dass er von Amoke die Wahrheit erfahren hatte, und wie versprochen abwarten – es sei denn, Noir war in Gefahr.
Es vergingen ein paar Minuten, dann öffnete sich die Tür mit einem automatischen Surren. Im dunklen Foyer stand Noir und betätigte den Türschalter.
Sie trug die Kleider eines Asylantenmädchens und wie immer ihre Handschuhe, die ihr etwas Verbrecherisches verliehen. Ihr Gesicht wirkte noch durchsichtiger als sonst, falls das überhaupt möglich war.
Er trat ein und löste dadurch ein automatisches Licht aus, das von der Decke strahlte. Eine Tür führte zum
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