Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
haben sollte und diese Hypnose eine entspannende Wirkung auf die Leute hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass
das
eine verantwortungsvolle Art war, mit der Gabe umzugehen. Egal, wie wichtig oder unwichtig die Beschäftigung sein mochte, der der alte Mann sonst nachgegangen wäre – Amoke hatte ihm eine Stunde seines Lebens gestohlen.
    Andererseits hatte Nino gestern nichts anderes getan. Er hatte zwar nicht Olga Pegelowas Zeit gestohlen, aber die Manipulation an sich war schon eine Missachtung ihrer Person.
    «Nino!»
    Er fuhr auf. Olga Pegelowa stand leicht vorgebeugt im Block- und Heftegang und starrte ihn an. Ihm dämmerte, dass sie das schon eine Weile tat.
    «Was los?» Ihre goldenen Ringe klirrten aneinander, als sie in die Hände klatschte. «Zehn Minuten zu spät, und jetzt du stehst rum?»
    «Was soll ich machen?»
    Sie murmelte etwas auf Russisch, das er nicht verstand. Es schien sich auch nicht an ihn zu richten, sondern an Gott. Mit schwer wogenden Hüften ging sie zurück in ihr kleines Büro.
    Es war nicht das erste Mal, dass sie angesichts seiner Faulheit resignierte. Brenzlig wurde es immer erst, wenn er einen Kunden ohne Maximalausgaben ziehen ließ. Deshalb lehnte Nino sich unbesorgt wieder gegen die Theke und widmete sich seinen Gedanken.
    Mentorenschaft. Ein Geheimbund. Amoke –
Mona
 – ein Mitglied. Mona, die auf der Party im Chemiewerk Drogen genommen hatte, die mit Julia befreundet war und sich ihre Männergeschichten anhörte. Die vermutlich mit ihr Klamotten einkaufen ging und sich die Nägel lackierte. Konnte dieses Mädchen in Wahrheit eine Frau sein, die in die Mysterien von Leben und Tod eingeweiht war?
    Er schüttelte den Kopf, als er gegen seinen Willen lächeln musste. Amoke konnte einen fremden Mann mit einem einzigen Satz dazu bringen, sie quer durch die Stadt zu fahren. Natürlich schaffte eine solche Frau es auch, vor ihren Freunden ein anderes Gesicht aufzusetzen.
    Ich werde Katjuscha verlieren
.
    Einfach so kam diese Erkenntnis, wie ein bissiger Hund, der manchmal schlief und manchmal wach wurde.
    Katjuscha verlieren. Ob er starb oder anders weiterlebte.
    Er blickte durch das Schaufenster, ohne etwas zu sehen und ohne etwas zu spüren.
    Schließlich fuhr er sich über das Gesicht, als könnte er damit auch die Verwirrung fortwischen, und begann an seinen Daumennägeln zu nagen. Er durfte nicht daran denken. Es ging nicht, es brachte ihm nichts, es gab auch keine Lösung.
    Das Einzige, was ihn von Katjuscha ablenken konnte, war Noir. Und an sie zu denken löste einen ziehenden Schmerz durch seinen ganzen Körper aus. Wenn es wirklich stimmte, wenn Jean Orin sie …
    Aber das war doch absurd! Eine Seelenlose? Fast musste er wieder lachen.
    «Wenn ich dran glaube, verlier ich den Verstand», murmelte er. Er erschrak nur kurz darüber, dass er mit sich selbst redete. So, wie es gerade in seinem Kopf aussah, war es nur vernünftig, seine Gedanken da rauszuholen, indem er sie aussprach. Er wiederholte leise: «Wenn ich all das glaube, verlier ich den Verstand. Aber es
ist
wahr. Ich muss den Verstand verlieren, um die Wahrheit zu finden.»
    Er streckte die Hand nach der Riesentüte Gummibärchen aus, die Olga Pegelowa unter dem Tresen aufbewahrte, und warf sich ein paar der zähen Dinger in den Mund. Er kaute angestrengt, hielt dann plötzlich inne. Was machte er hier überhaupt? Stand rum, verkaufte Pinsel, während Noir bei diesem – diesem Monster war? Während dieser Teufel das Elend seines Schicksals in ihr ablud. Sie durfte nicht bei ihm bleiben, keine Stunde länger!
    «Stimmt das denn? Ein Irrtum, ist das möglich … am realistischsten wäre es, wenn nichts davon stimmt. Deshalb ist es am wahrscheinlichsten, dass alles stimmt …»
    Aus den Augenwinkeln sah er, dass Olga Pegelowa wieder im Gang stand. Er ließ die Hände sinken, die er in seinen Haaren vergraben hatte, und richtete sich auf. Aber an ihrem verstörten Gesichtsausdruck konnte er ablesen, dass das nichts mehr brachte. Sie hatte ihn gehört.
    Er schluckte die Gummibärchen hinunter.
    «Vielleicht», sagte sie behutsam auf Russisch, «solltest du nach Hause gehen.»
    Er erwiderte ihren Blick. Saugte sich ein Stück Gummibärchen zwischen den Zähnen hervor.
    «Nach Hause gehen?», wiederholte er auf Russisch.
    In ihrem schlaffen kleinen Gesicht mischten sich Argwohn, Schreck und Trauer. Nino kam diese Mischung bekannt vor, aber er konnte sich jetzt nicht daran erinnern, woher. Jedenfalls bereitete

Weitere Kostenlose Bücher