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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Nino öffnete die Augen und sah, dass sie in einem Tunnel waren. Noir überholte die anderen Autos. Am bereits fernen Eingang des Tunnels tauchte jetzt der Krankenwagen auf. Sie rasten wieder ins Tageslicht, Noir bog bei einer großen Kreuzung ab, wo sie nicht hätte abbiegen dürfen. Autos hupten. Nino war nicht sicher, ob er einen Zusammenprall hinter sich hörte. Als er in den Rückspiegel sah, tauchte der Krankenwagen wieder auf, machte dieselbe Wende wie der Maserati und wurde seitlich von einem Doppeldeckerbus gerammt. Der Wagen kippte aus der Kurve und blieb wie ein unbeholfener Käfer auf der Seite liegen.
    Noir krümmte sich und stöhnte.
    «Wir haben sie abgehängt!» Auf einmal merkte er, dass etwas mit Noir nicht stimmte. Er versuchte festzustellen, was es war, aber sie klammerte sich einfach nur ans Lenkrad und sah aus, als müsste sie sich übergeben.
    «Was ist, was hast du?»
    Sie schüttelte den Kopf und nahm den Fuß vom Gas, dann bog sie in die Tiefgarage eines Hotels ein. Mit zitternden Händen zog sie ein Ticket und fuhr unter die Erde. Sie parkte in einem dunklen Winkel im dritten Untergeschoss und schaltete den Motor ab.
    «Alles okay?»
    Statt zu antworten, sank Noir in seine Arme. Er hielt ihren Kopf und spürte, wie ihm warme Flüssigkeit auf die Hand rann. Blut. Sie blutete unter den Haaren.
    «Du bist verletzt!»
    «Er … ist verletzt.»
    Behutsam strich er ihre Haare zur Seite, um die Wunde zu finden. Da war ein dunkler Riss, etwa vier Zentimeter lang, links unterhalb ihres Scheitels. Nino erstarrte.
    «Halte mich», flüsterte Noir.
    «Ja. Ja, ist gut.» Behutsam zog er sie auf seinen Schoß. Sie atmete kleine Laute des Behagens aus, doch ihr Körper war steif und kalt. Erst unter seinen Händen wärmte sie sich allmählich auf.
    Schließlich konnte sie sich wieder genug bewegen, um an ihren Kleidern zu nesteln. Sie öffnete seine Hose und setzte sich auf ihn. Ein Schauder durchlief sie, Hitze stieg aus ihrem Schoß durch alle Glieder und machte sie geschmeidig.
    «Jetzt bist du wieder Wasser», sagte Nino. Sie lächelte fast.
    Nachdem sie sich genommen hatte, was sie brauchte, schlief sie sofort ein. Den Kopf an seine Schulter gelehnt, schnarchte sie sogar ein bisschen. Nino blieb hellwach im Rieseln heller Sternensplitter. Er spürte die Feuchtigkeit ihres Mundes auf der Haut, aber als er ihren Kopf betastete, war da keine Wunde mehr, nur noch ein paar verklebte Haarsträhnen. Erleichtert hielt er sie und schloss die Augen.
    Plötzlich kam ihm ein Bild von Noir, wie sie mit seinem Körper in sich selbst eintauchte und sich durch Dunkelheit und warmes Gewebe und Organe tastete, auf der Suche nach sich selbst: Ein Schrank erschien, aus lackierten, honiggelben und dunkelbraunen Holzleisten. Noir öffnete diesen Schrank an unsichtbaren Griffen. Innen war er alt und vermodert. Die Schubfächer hingen morsch, zersplittert oder schon zerbrochen in den Leisten. Der Staub toter Motten überzog die Überreste von Kleidern, Nähkissen und Seidenbändern. Noir öffnete eine knarrende Schublade. Darin waren unsagbare Schätze: die Milchzähne von Kindern, die längst Greise geworden waren, golden bemalte Ringe mit funkelnden Glassteinen, Bilderbücher mit zerfranstem Einband, gepresste Blüten, gepflückt bei einem seltenen Familienausflug, die glänzenden Schalen toter Maikäfer, halbleere Parfumflakons, Schokoladenstückchen aus einem Adventskalender und rot-weiß gestreifte Haargummis, an denen ein winziges Büschel heller, vertrockneter Kinderhaare befestigt war. Noir strich mit den Fingern durch den raschelnden und klimpernden Inhalt der Schublade, und so viele Erinnerungen wölkten auf, dass sie sich daran wie an einem betörenden Duft verschluckte.
    Mein liebstes Bilderbuch, es ging um Kätzchen mit verschiedenfarbigen Schleifen um den Hals, und auf einem Bild trinken sie aus einer großen hellblauen Schale dicke Milch, und ich habe als Kind versucht, Milch wie eine Katze aus einer Schale zu schlecken, bis mir die Zunge wehgetan hat.
Noir seufzte und schien von ihren eigenen Worten zu erwachen. Sie stemmte sich mit beiden Händen von seinen Schultern ab, um ihren Kopf zu heben. Sie fühlte sich überhaupt schwerer an als sonst. Nicht, dass Nino sich über so etwas noch wunderte.
    «Geht es dir besser?», fragte er.
    Sie rieb ihre Stirn an seiner. «Ich möchte … ich glaube, ich erinnere mich daran, wie Milch schmeckt. Ich will welche trinken. Unbedingt.»
    Er musste leise auflachen.

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