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Noir

Noir

Titel: Noir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ich fürchte mich noch mehr vor einem Leben, das ich dann selbst bestimmen muss. Das klingt schrecklich feige, ich weiß.»
    Jean Orin sagte nichts dazu.
    «Ich muss Ihr Angebot ablehnen. Ich sterbe lieber, als die Verantwortung selbst zu übernehmen. Oder schlimmer noch, sie einem anderen – Ihnen – zu übertragen.»
    Die Straße endete vor einem verfallenen Wohnhaus, sie bogen nach links in eine ähnlich trostlose Straße. Das Skelett eines Fahrrads war noch an einen Laternenpfosten gekettet.
    «Ich könnte versuchen, dich zu überreden, deine Meinung zu ändern. Zumal dein Argument unglaublich schwach ist.» Jean Orin kniff die Augen gegen den stärker werdenden Regen zusammen. «Oder ich könnte deine Entscheidung akzeptieren. Dann müsste ich dir gratulieren. Dafür, dass du stark genug bist, dein Schicksal zu tragen und deine Freiheit zu behalten.»
    Nino hielt den Atem an. Ehrlichkeit hatte er nicht von Jean Orin erwartet. Im Grunde fürchtete er sogar, ihm in aller Ehrlichkeit begegnen zu müssen.
    «Es gibt Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Wer den Tod fürchtet, wer seine Vergänglichkeit nicht akzeptieren kann, der muss geführt werden.»
    Nino nahm allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte. «So rechtfertigen Sie also, was Sie Noir angetan haben.»
    Jean Orin nickte, als sei das eine neutrale Feststellung gewesen.
    «Noir, Amor und Schnee hatten dieselbe Wahl wie du. Sie waren begabt, aber nicht in der Lage, das Wissen um ihr Schicksal zu ertragen. Sie wollten ihrem Tod entgehen, ich habe es ihnen ermöglicht. Es war ihre Entscheidung.»
    «Sie haben sie belogen.»
    «Nein. Ihr habt nur nicht die richtigen Fragen gestellt.»
    Nino fühlte sich überwältigt von Fassungslosigkeit und Wut, aber auch Ohnmacht. Er wollte sich auf Monsieur Samedi stürzen, ihn verprügeln für das, was er Noir angetan hatte, und das, was er da sagte. Aber er traute sich nicht. Es war unmöglich.
    «Ich gehe davon aus, dass Noir dir einiges verraten hat», fuhr Jean Orin ruhig fort. «Darum kann ich deine weise Entscheidung nicht nur deiner inneren Stärke zuschreiben. Ohne Noirs Verrat hättest du die Transplantation gewählt.»
    «Nein.»
    «Oh doch. Aber das macht auch nichts mehr. Wie gesagt, ich würde dir gratulieren, dass du nun selbst Mentor werden und dir Geister erschaffen darfst. Aber da ich dein Schicksal kenne, weiß ich, dass du nicht mehr lange genug zu leben hast.» Jean Orin blieb stehen und lächelte ihn an. Der Regen prasselte zwischen ihnen. Aus den Augenwinkeln sah Nino eine Bewegung, einen Pflasterstein – er duckte sich und erkannte für den Bruchteil einer Sekunde Amor, der den Stein durch die Luft sausen ließ und vom Schwung selbst mitgerissen wurde. Reifen quietschten. Nino taumelte von Jean Orin weg und hörte, wie der Stein hinter ihm zu Boden geschmettert wurde.
    Monsieur Samedi breitete die Arme aus und versuchte ihn festzuhalten. Ein irres Lächeln schwamm über seine Züge, dann verzerrte er die fleischigen Lippen zu einer Grimasse.
    Der Maserati raste um die Ecke. Knapp vor Nino bremste er ab. Noir stieß die Beifahrertür auf.
    «Komm!»
    Monsieur Samedi schleuderte die Arztjacke weg. Seine Hände zerrten am weißen T-Shirt. «Noir! Nicht! Ich liebe dich! Ich liebe dich!»
    Nino sprang ins Auto und hatte kaum die Tür zugezogen, als Noir Gas gab. Monsieur Samedi stieß einen Schrei aus, der nicht menschlich klang, einen Schrei, der durch die Straße hallte und heiser geschluchzte Echos in Noirs Kehle fand. Sie rasten auf eine Unterführung zu, gelbe Müllcontainer flogen über den Wagen, eine Gitterabzäunung schrammte an ihnen entlang, dann bretterten sie auf eine vierspurige Straße, und Noir wich einem Taxi und mehreren Fußgängern an einer Ampel aus. Nino schlug mit dem Kopf gegen die Decke, als sie über die Bordsteinkante fuhren. Hinter ihnen begann eine Sirene zu heulen.
    Der Krankenwagen tauchte im Rückspiegel auf. Nino schloss die Augen, versuchte auszublenden, dass er mit 160 auf der falschen Spur durch die Stadt raste.
    Noir riss das Lenkrad nach links und rechts, um entgegenkommenden Autos auszuweichen, dann fuhr sie über einen Parkplatz, landete auf einer neuen Straße. Der Rettungswagen folgte ihnen mit schrillem Sirenengeheul.
    Noir trat aufs Gaspedal. Nino konnte nicht hinsehen, er spürte nur, wie sie beschleunigten. Gleich würde ihnen die Haut nach hinten abgezogen. Sie würden in ihren Sitzen einfach zerdrückt wie weiches Obst.
    Es wurde dunkel.

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