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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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gleiten und erzählte Nhur, was sie an diesem Morgen im
souk
gefunden hatte. An manchen Tagen gibt es nur sehr wenig zu kaufen, selbst wenn man Geld hat, und heute früh wurde überhaupt kein Fleisch angeboten. Normalerweise hängt eine ganze gehäutete Ziege oder ein Schaf an einem Nagel am Stand, sodass man sofort erkennt, ob es richtig geschlachtet wurde. Der Verkäufer wischt die Fliegen weg und schneidet einem das Fleischstück heraus, das man haben will – Rippe, Schulter oder Keule. Aber heute war nichts da gewesen. Meine Mutter hatte zwar Holz für ein großes Feuer gesammelt, aber außer Reis und Ziegenmilch hatten wir nichts in den Topf zu tun. Mama rief nach Raschid. Wenn ich ihn um irgendetwas bat, war er nie dazu bereit, aber sobald meine Mutter nur seinen Namen aussprach, war er gleich zur Stelle. Sie trug ihm auf, das letzte ihrer Zicklein zu holen. »Hol mir
Ourgi Yeri
, mein Junge«, sagte sie und wies in die Richtung des Termitenhügels.
    »Was hast du mit der hübschen kleinen Ziege vor?«, fragte ich, aber sie gab mir keine Antwort, sondern fing an, das Feuer zu schüren.
Ourgi Yeri
war weiß mit schwarzbraunen Knien, so als ob er immer im Schmutz kniete, um zu beten. »Mama«, flehte ich, »bitte, lass das! Ich muss ganz bestimmt kein Fleisch essen. Du brauchst das Zicklein nicht zu schlachten, nur weil ich hier bin. Behalt es lieber! Bitte, Mama, ich mache mir wirklich nichts aus Fleisch.«
    »Das Leben ist eben manchmal so, Waris«, entgegnete Mama fest. Sie hat einen so starken Glauben, dass er sich auf die Menschen in ihrer Umgebung überträgt. Sie glaubt fest daran, dass Allah für sie sorgt. Ich sagte nichts mehr.
    Raschid tat, was sie ihm aufgetragen hatte, und nahm das lange Schlachtermesser mit. In der Regenzeit muss man sich um die Ziegen kaum kümmern, weil sie in der Nähe des Lagers immer genug frisches Gras finden. Schnell hatte Raschid das Tier eingefangen und trug es auf den Armen hinter die Hütte. Dort half ihm Burhaan dabei, die kleine Ziege mit gestrecktem Hals auf die Knie zu drücken. Das arme Ding ahnte etwas und blökte jämmerlich. Ich konnte nicht zusehen, wie sie die Ziege schlachteten, es war so ein hübsches Tier. Sie mussten es korrekt ausführen, weil meine Familie das Fleisch sonst nicht essen würde. Man hatte die Kehle so aufzuschlitzen, dass der Tod schnell und ohne Schmerzen eintrat. Das ist die Vorgehensweise der Muslime.
    Mich regte es ganz besonders auf, weil meine Mutter die kleine Ziege liebte. Jeden Morgen hat sie sie getätschelt und unter dem Kinn gekrault, wo langsam schon ein Bärtchen zu sprießen begann. Ihre Ziegen bedeuteten ihr alles, und das war auch kein Wunder, schließlich gaben sie Milch, und das war oft das Einzige, was sie ihrer Familie anbieten konnte. Und jetzt wurde ihr zweites und letztes Jungtier geschlachtet. Mama dachte nie an morgen, immer gab sie bereitwillig, was sie hatte.
    Plötzlich herrschte tiefes Schweigen, sodass man die Tauben auf der Hütte der Nachbarin gurren hörte. Mama blieb natürlich ungerührt wie immer, sie blickte nur einen Moment gedankenverloren zu den Hügeln. Für mich hat Hunger ein menschliches Gesicht, er sieht aus wie meine Mutter. Sie hatte nur fünf Ziegen gehabt – jetzt waren noch drei übrig, weil für unseren Besuch die beiden Zicklein dran glauben mussten.
    Raschid brachte das geschlachtete Tier zu meiner Mutter. Den Kopf hatte er in einem Korb aufgefangen. Mutter schärfte das Messer an einem Stein, häutete das Tier und nahm es aus. Die Haut legte sie beiseite, sie ergab, nass über die Hölzer gespannt, den Bezug für einen dreibeinigen Hocker. Wenn sie trocknet, schrumpft sie und passt sich an das Gestell an.
    Dann schnitt Mama sorgfältig jedes einzelne Teil des Tieres heraus, einschließlich der Augen, Nase und Lippen. Die beiden kleinen Hörner gab sie Mohammed Inyer zum Spielen, das Fleisch wanderte in den Kochtopf. Mohammed Inyer tanzte mit den Hörnern herum und blies hinein, um zu sehen, ob er einen Ton damit erzeugen konnte. Fröhlich tutete er meiner Mutter ins Ohr. Als ihm das keinen Spaß mehr machte, begann er mit einem Horn ein Loch zu graben, und der Staub flog auf das Fleisch. »Bleib von meinem Kochtopf weg, sonst nehme ich dir die Dinger wieder ab«, drohte ihm meine Mutter. Gehorsam trollte er sich zu seinen Freunden.
    Meine Brüder und ich haben einmal ausgerechnet, wie alt meine Mutter wohl sein mag. In Somalia schätzt man das Lebensalter eines Menschen danach, wie

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