Nomadentochter
viele
gu
oder Regenzeiten er erlebt hat. Es war bei ihr nicht ganz einfach, aber wir halten sie für siebenundfünfzig, obwohl sie eher älter aussieht, wie siebzig. Das harte Leben hat natürlich seine Spuren hinterlassen. In ihr Gesicht haben sich tiefe Falten gegraben, weil sie jeden Tag so schwer arbeiten muss. Sie hat kein Gramm Fett am Körper, und ihre Füße sind voller Hornhaut und Schwielen. Ihre Augen sind trüb und glänzen nur mehr selten. Aber ich bin dankbar dafür, dass sie immer noch gesund ist. Wenn ich beobachte, wie sie beim Arbeiten singt, merke ich, wie ihr Glaube sie trägt. Man muss Gott und der Kraft, die er einem schenkt, vertrauen. Und diesen Glauben besitzen sowohl mein Vater als auch meine Mutter, den Glauben an die magische Kraft der Natur. Sie sind nicht sozial abgesichert, sie haben keine Krankenversicherung und keine Rente. Mein Vater ist fast blind, und meine Mutter wiegt vielleicht noch achtzig Pfund – aber sie sind stärker als ich. Die Hälfte ihrer Kinder ist tot, und meine Mutter hat mindestens eine Kugel in der Brust; dennoch stellt sie sich jeden Tag aufs Neue ihrem Leben, voller Mut und Hoffnung.
An diesem Nachmittag rief mein Vater nach jemandem, der ihm half.
»Ich bin es nur, Aba«, meldete ich mich und trat an seine Matte.
»Wo ist Mohammed?«, fragte er. »Meine Augentropfen sind fällig!«
»Also, im Moment ist gerade niemand hier.«
»Ich brauche Mohammed, Burhaan oder seine Mutter, damit sie mir meine Augentropfen geben«, beharrte er.
Er hielt mich immer noch für ein kleines Mädchen, und ich musste ihm versichern, dass ich das genauso gut konnte wie Mama oder meine Brüder. »Vater, ich bin doch mittlerweile ebenso erwachsen wie die Jungen«, sagte ich. »Ich weiß, was ich tue.« Vorsichtig nahm ich ihm den Verband ab und wusch sein Gesicht mit sauberem Wasser. Die Schwellung war ein wenig zurückgegangen, und er konnte wieder besser reden und kauen; aber das Auge sah immer noch zum Fürchten aus. Der Augapfel war eingesunken und hässlich gelb. Als ich die Tropfen hineingeträufelt hatte, behauptete mein Vater, er könne jetzt besser sehen. »Was siehst du denn?«, fragte ich ihn.
»Schatten«, erklärte er. »Ein paar Farben und Umrisse.«
»Das ist wirklich ein Geschenk Allahs«, atmete ich auf. »Ich danke dem Herrn, dass du die Behandlung durch den Buschdoktor überlebt hast. Hoffentlich entschließt du dich in Zukunft mal für ein ordentliches Krankenhaus. Vater, du darfst einfach nicht mehr zu so einem Verrückten gehen, der mit dem Messer an dir herumschneidet!«
»Hiiyea«, erwiderte er leise. Ich verband ihm das Auge wieder, damit kein Schmutz oder Fliegen hineingelangten. Dann löste ich noch zwei Tylenol in seinem Tee auf, weil er sie nicht ganz schlucken konnte. Wenigstens etwas Nützliches hatte ich für meine Familie mitgebracht.
Nach dem Essen sagte ich zu ihm: »Vater, ich komme wieder zurück und das nächste Mal bleibe ich länger. Die acht Tage sind so schnell vorbeigegangen. Es wäre besser, wenn ich einmal zwei Monate oder länger hier bleiben könnte, und das mache ich bestimmt bald.«
Mohammed nickte, und Raschid neckte mich: »Vielleicht würdest du ja dann auch lernen, ein Feuer anzuzünden, ohne gleich alle bei lebendigem Leib zu räuchern.«
»Mit euch habe ich überhaupt nicht geredet, ihr nutzlosen Tagediebe!« Ich ergriff die Hand meines Vaters und sagte ihm, wie gerne ich wollte, dass mein Sohn seine Familie kennen lernte. »Wenn ich mit Aleeke zusammen herkomme, dann bleibe ich mal für ein paar Monate. Ich habe so viele Leute noch nicht einmal begrüßt, weil die Zeit nicht ausgereicht hat.«
Verwirrt blickte Raschid mich an und fragte: »Waris, wie lange warst du nicht mehr hier?«
»Über zwanzig Jahre.«
»Und wie lange warst du jetzt da?«
»Eine Woche.« Mein Bruder warf mir einen Blick zu, als sei ich nicht ganz bei Verstand. Für ihn war es völlig unvorstellbar, dass jemand eine so weite Reise unternahm und dann nur acht Tage blieb.
»Wichtig ist, dass du überhaupt wiedergekommen bist, Waris«, beschwichtigte mein Vater.
Mein letzter Abend mit meiner Familie war für uns alle etwas Besonderes – ein fast magischer Abschied! Als es dunkel wurde, breiteten wir gewebte Matten und Tücher auf dem Boden um das Feuer aus. In dieser klaren Nacht quälten uns die Moskitos nicht so wie sonst, also konnten wir draußen sitzen bleiben. Mutters Ziegen kamen auch ans Feuer und legten sich neben sie. Die älteste
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