Nomadentochter
ich ein Haus mit einer Feuerstelle und einem Teekessel sah. Rasch lief ich zurück, um meiner Mutter davon zu berichten. »Mama, Mama, ich habe ein Haus und Menschen gesehen. Komm schnell! Wir sind gerettet!« Ich rannte den Hügel zu dem Haus hinunter, und als ich näher kam, schrie ich: »Hallo, hallo, ist da jemand?« Niemand antwortete, und es kam auch keiner aus der Hütte. Aus dem Teekessel stieg ein seltsamer Dampf auf, und ich hob den Deckel hoch, um nachzusehen, was darin war. Wenn wir nicht viel Wasser haben, bewahren wir es im Teekessel auf, damit es nicht verdirbt. Aber dieser Teekessel war voller Blut, und jemand wurde darin gekocht. Entsetzt ließ ich den Deckel fallen, trat einen Schritt zurück und sah mich um. Überall tauchten plötzlich seltsame Gestalten auf – sie sahen aus wie weiße Teufel mit eingesunkenen Wangen und hohlen, trüben Augen. Auf jeder Seite standen zwei. Meine Mutter kam gerade den Hügel herunter, und ich schrie: »Mama, Mama, komm nicht her. Lauf weg, lauf weg!«
Sie erwiderte jedoch: »Nein, Waris, ich bin nicht mehr so schnell. Du musst weglaufen.« Ich wollte sie nicht allein lassen, aber die bösen
djinns
kamen immer näher. Also flehte ich sie an: »Mama! Komm, wir laufen zusammen!« Aber sie konnte das Tempo nicht halten – und ich lief immer weiter und rief ihr zu: »Schlag die Teufel, Mama, schlag sie weg!«
Sie gellte: »Lauf, lauf, Waris!«
»Nein, Mama«, kreischte ich. »Was ist mit dir?«
»Renn, Waris«, keuchte sie. »Ich komme schon zurecht.«
Als ich zurückblickte, sah ich, dass die Teufel mit langen Schlachtermessern auf sie einhieben. Sie fiel zu Boden, aber als ich zu ihr wollte, verfolgten sie auch mich, sodass ich immer weiterlaufen musste und ihr nicht helfen konnte. Schreiend fiel ich hin und davon erwachte ich.
Wir mussten zeitig aufbrechen, um in einem Tag nach Bosasso zu gelangen, aber ich konnte mich kaum rühren, so zerschlagen fühlte ich mich. Meine Mutter stand auf, noch bevor der Mond untergegangen war, und tappte mit ihrer Gebetsmatte aus der Hütte. Sie entrollte sie auf dem Boden und wandte sich mit dem Gesicht der heiligen Stadt Mekka zu, dem Nabel der Welt. Dann verneigte sie sich auf den Knien liegend und begann zu beten. »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet!« Oh, wie ich den Klang dieser Worte liebe! Für meine Mutter ist es das Lied des Lebens, das dem Tag Struktur verleiht. Auch wenn sie noch so viel zu tun hat, verpasst sie doch nie ihre Gebete. Sie drückt damit aus: Ich gehöre Gott, er ist das Wichtigste in meinem Leben und das Einzige, was zählt. Fünfmal am Tag berührt sie die Ewigkeit.
Ich dagegen habe überall Uhren und Terminkalender im Haus, als sei die Zeit das Wichtigste. Es ist zwei Uhr, also muss ich bei meiner Agentur anrufen, ganz egal, ob das Baby schreit oder es an der Haustür läutet. Die Uhrzeiger beherrschen alles, und ich bin ihr Sklave. Meine Mutter ihrerseits ist ein Sklave Gottes. Er verleiht ihr Würde und Stärke.
Ein paar Tauben flogen von Osten heran und setzten sich auf das Dach ihrer kleinen Hütte. Wir nennen sie Engelsvögel, weil sie den
tuspah
, einen schwarzen Federring, wie ein heiliges Amulett um den Hals tragen. Sie bringen Engel und gute Nachrichten mit sich, und ich dachte sofort, dass Allah schon für meine Mutter sorgen wird.
Meine liebe Schwägerin Nhur machte Angella für mich. Als die Holzkohle glühte, hockte sie sich neben das Feuer und strich den Teig, den sie am Abend zuvor zubereitet hatte, auf die Blechplatte. Ich konnte die Angella nicht mit nach Amerika nehmen; aber ich wollte wenigstens ein paar Fotos machen, um mich besser an ihren besonderen Geschmack und Duft zu erinnern. Als ich jedoch versuchte, Nhur zu fotografieren, ergriff sie das lange Messer, lächelte mich an und stach zum Spaß nach mir. »Lass mich in Ruhe, ich koche hier!«
»Ich weiß, dass du davon Gebrauch machst, wenn ich dir zu nahe komme«, entgegnete ich, aber was konnte ich schon ausrichten? Nhur war hochschwanger und trug ein langes Kleid. Ich fotografierte sie aus jedem Winkel, um sie zu necken. Sie würde kaum im Stande sein, mich zu verfolgen.
Die Nachbarn tauchten auf, um noch etwas von mir zu ergattern. Sie wussten, dass ich wegfuhr und nichts mit nach Hause nehmen wollte. »Gib mir die Kakaobutter, gib mir diesen Schal!«, riefen sie. »Du brauchst ihn doch nicht mehr.« Ich hatte nicht mehr viel zu verschenken, aber das Wenige, was ich hatte, überließ
Weitere Kostenlose Bücher