Nonnen
gemacht hat. Ihr Haar, vorher noch
kastanienbraun, war schlohweiß geworden. Man munkelte
damals, daß man sie in die Landesheilanstalt Düren
habe einliefern müssen. Mehr kann ich Ihnen nicht
sagen.‹
Ich beschloß, auf dem Rückweg in Düren aus dem
Zug zu steigen. Schließlich lag es am Weg. Erschöpft
ließ ich mich in den übelriechenden Plastiksitz
fallen. Mit einem Ruck ging es los.«
Der Gedanke, in der Landesheilanstalt zu recherchieren, gefiel
Benno überhaupt nicht; er bereitete ihm großes
Unbehagen. Es würde genügen, daß er sich hier mit
allgemeinen Beschreibungen beschiede. Es mußte
genügen. Wieder war es zu spät geworden. Er fühlte
sich überarbeitet und ging zu Bett. Er träumte, er
schlafe ein. Und sein Traum handelte von einem schrecklichen
Jungen, der eine Geißel seiner Umwelt war. Und in einem
Traumspiegel sah Benno, daß er selbst dieser Junge war. In
dieser Lüge erwachte er.
Suchte er wirklich sich selbst? Es war dumm von ihm gewesen,
das Buch fortzuwerfen, die Kladde mit der Sütterlinschrift,
die Anklageschrift. Was hatte darin gestanden? Er versuchte sich
zu erinnern, aber es gelang ihm nicht mehr. Geraunte Wahrheiten.
Er mußte die Kladde wiederfinden. War sie tatsächlich
in dem Grab versunken? Hatten die Schwestern sie
zurückverlangt? Er mußte einer Sinnestäuschung
erlegen sein: Wind, der über das Efeu strich und es in
wellenförmige Bewegung brachte, gerade in dem Moment, als
die Kladde durch die Blätterschicht versank.
Hatte er das Buch überhaupt besessen? Sicher, er hatte es
beschrieben, und Dinge, die er beschrieb, paarten sich mit den
Dingen, die er erlebte. Aber war es auch hier so gewesen? Seine
Gedanken fanden keinen Halt mehr.
War er in dem Antiquariat des Herrn Grassteiner gewesen?
Oder war auch das alles eine Erfindung?
Hatte er sich selbst beschrieben, wie er die Buchhandlung
betrat?
Es gab nur einen Weg, dies herauszufinden.
Der Abend des nächsten Tages – Benno hatte sich
erneut bei der Büroarbeit erschöpft, Herr Bandmann
hatte kein einziges Wort mit ihm gesprochen und ihn nur hin und
wieder seltsam angeschaut – sah Benno bei dem Antiquar
Grassteiner eintreten.
»Ah, der Herr Durst«, sagte Grassteiner.
»Haben Sie gestern etwas vergessen?«
»Ich – ich – gestern – habe ich das
Buch – die Kladde hier liegengelassen?« stammelte
Benno, dem eher zum Schreien zumute war.
»Ich glaube nicht«, sagte Herr Grassteiner.
»Ich kann mich daran erinnern, daß Sie es in der Hand
hielten, als Sie den Laden verließen. Aber ich kann
trotzdem gern noch einmal danach suchen.« Und
tatsächlich machte er sich auf die Suche.
Währenddessen schaute sich Benno um, gehetzt von der
Vorstellung, daß alle diese Bücher mit allen ihren
Welten nur darauf lauerten, ihn zu verschlingen. Und da sah er
auch schon ein in Halbleinen gebundenes Büchlein in dem
gleichen Format wie das verlorene. Er sprang zu dem Regal, zog es
heraus, und es fiel zwischen seinen zittrigen Fingern zu Boden.
Dort öffnete sich ein kleiner Luftschacht, den Benno nie
zuvor bemerkt hatte. Das Buch fiel hinein. Benno bückte
sich, tastete mit den Fingern danach, aber der Schacht war zu
tief. Er war eng. Benno befühlte die Wände. Sie waren
warm und klebrig. Hinter sich hörte er Schritte. Er erhob
sich eilends, und ihm wurde schwindlig. Er hielt sich an einem
der Regale fest. Er starrte es an. Es war angefüllt mit in
Halbleinen gebundenen Kladden. Eine neben der anderen. In Reih
und Glied. Eine angetretene Kompanie.
»Ich habe es nirgends finden können«, sagte
der Antiquar.
»Und was ist das hier?« keuchte Benno. Er wollte
auf das Regal deuten, hatte aber seine Bewegungen nicht unter
Kontrolle und ruderte nur wild mit den Armen. Mit großer
Anstrengung gelang es ihm, aus dem Laden hinauszusteuern, und
dann rannte er, rannte Passanten um, rannte, bis er
plötzlich stehenblieb und sich besann. Die Passanten waren
schwarz gekleidet gewesen, als würden alle zu einer
Beerdigung marschieren. Doch nun waren sie verschwunden. Wohin?
Benno holte tief Luft.
Laß dich doch nicht verrückt machen.
Du machst dich selbst verrückt.
Such nicht weiter nach dem, das du schon lange
kennst!
Das Buch mußte noch auf dem Friedhof sein. Irgendwo
verborgen unter den Efeublättern. Also fuhr er dorthin
zurück. Aber er nahm einen anderen Eingang, wollte nicht dem
Wärter erneut in die Arme laufen. Bei jeder Wegbiegung und
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