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Nonnen

Nonnen

Titel: Nonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Bewegung warf er den verschobenen Deckel zur Seite, so daß
er unter lautem Poltern zwischen die Kränze mit den leeren
Schleifen fiel. Er riß die härene Decke fort, zog ein
Messer aus irgendeiner Tasche seiner Straßenkleidung und
begann damit, die Puppe im Bauchbereich aufzuschneiden. Ich war
inzwischen aufgestanden und schaute ihm gebannt zu. Manchmal warf
ich einen Blick in das kerzenerhellte Kirchenschiff. Noch immer
regte sich niemand aus der Trauergemeinde. Sie alle schauten hoch
zum Altar, mit stumpfen Augen, in denen eine Mischung aus
Erwartung und Abscheu lag.
    Jetzt hatte der Priester die Bauchhöhle der Puppe
vollständig geöffnet. Mit langsamen Bewegungen steckte
er das Messer wieder weg, ging wie unter der Last eines
unerträglichen Zeremoniells um den Altar herum zum
Tabernakel und entnahm diesem einen leeren Kelch. Den Kelch trug
er erhoben vor sich her zum Sarg. Dann griff er mit einer Hand in
die geöffnete Bauchhöhle und holte etwas daraus hervor,
womit er den Kelch füllte. All dies geschah in höchstem
Schweigen. Als er damit zum Ende gekommen war, drückte er
mir den Kelch in die Hand und wies hinunter auf die versammelte
Gemeinde. Ich verstand ihn.
    Ich verließ den Altar. Die Münder der Gemeinde
standen weit offen. Ihre Zungen hingen lechzend heraus. Ich
schaute schnell auf das, was da in meinem offenen Kelch lag. Es
besaß die Form von Hostien, ja sogar die Farbe von Hostien.
Aber es bewegte sich. Es raschelte. Ich nahm die erste Hostie in
die Hand. Sie war warm und glitschig. Ich steckte sie demjenigen,
der mir am nächsten saß, in den weit offenstehenden,
sabbernden Mund. Er kaute laut und schmatzend und reglos. Da sah
ich, daß seine Hände an die Bank vor ihm genagelt
waren. Und so war es auch bei seinem Nachbarn. Und bei allen. Ich
mußte sie alle füttern. Da immer nur vier in einer
Bank nebeneinandersaßen, konnte ich jeden von ihnen von
einem der Gänge aus erreichen und ihnen die feuchte,
zuckende Hostie in den Mund stecken.
    Als ich zurück zum Altar ging, sah ich, daß
lediglich eine einzige Hostie übrig war. Ich reichte dem
Priester den Kelch und erhielt von ihm die Kommunion, bevor ich
mich wehren konnte. Als letztes sah ich, daß die
Trauergemeinde verblaßte. Die schäbigen, staubigen
schwarzen Anzüge wurden durchscheinend, die Gesichter und
die angenagelten Hände wurden durchscheinend, bis ich die
Holzbänke hinter ihnen deutlich sah.
    In der Morgendämmerung erwachte ich in der Kirche. Die
Sonne schien in dicken, bunten Strahlen schräg durch die
hohen gotischen Fenster und spielte mit dem aufsteigenden Staub,
und weit hinten sah ich, daß das Portal halb offenstand.
Ich erhob mich aus meinem Ministrantensessel und lief hinaus.
Niemand war auf dem Kirchplatz. Das Wirtshaus gegenüber lag
verlassen da; seine Fenster waren mit schwarzen, seidig
glänzenden Stoffen verhängt, und oben knarrte das
Schild in einem Wind, der da, wo ich stand, nicht zu spüren
war. Das Sonnenlicht verschwand, und ich bemerkte, daß es
nicht die morgendliche Dämmerung war, sondern die
abendliche. Die Schatten wurden länger und krochen in die
engen, toten Gassen. Ich beeilte mich, aus dem Dorf
hinauszukommen. Bald hatte ich die zerfallenen Katen erreicht,
die seinen Rand säumten, und ich lief von dem Dorf auf einer
Allee davon, an die ich mich nicht erinnern konnte. Die Sonne war
schon untergegangen, als plötzlich die Dunkelheit wie ein
Vorhang von oben herabgelassen wurde, wie ein welliger Vorhang
oder wie herabfließendes Wasser, und nun war der Raum
zwischen den Bäumen, der vorhin nur von erstarrten Feldern
eingenommen gewesen war, nicht länger leer und still.
Unzählige Gesichter erschienen dort, und sie murmelten vor
sich hin, daß es klang wie das Rauschen eines
majestätischen Waldes. Und jetzt verstand ich sie. »Du
bist wir«, sagten sie. Und: »Wir sind deine Kinder.
Endlich haben wir zueinandergefunden.«
    Und hinter mir hörte ich zum ersten Mal die Glocken der
Kirche. Sie läuteten in einem schrecklichen Triumph.

 
Drittes Bild
NIEMAND IST ALLEIN
     
     
    Niemand hatte Gill eingeladen, niemand hatte ihn mitgebracht.
Eines Tages war er einfach da. Wir trafen uns jede Woche an dem
einem oder anderen Tag in dem ausgebrannten alten Kino, in dem
unser Freund Schrein eine notdürftige antiquarische
Buchhandlung eingerichtet hatte. Er hatte das beschädigte
Dach mit Brettern vernagelt, mit Teerpappe

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