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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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gezähnt und haben eine bösartige Spitze. Sie selbst würde das nie so ausdrücken. Die Bäume, die ich in ihrem Umkreis gepflanzt hatte oder die sich von selbst dort angesiedelt hatten wie zum Beispiel die Oleaster, nahmen ihr immer mehr Licht. Sie hatte beschlossen, sich davon nicht beirren zu lassen. Sie hatte ihren eigenen Auftrag. Mir wurde klar, daß sie, hätte sie sprechen können oder wollen, das wahrscheinlich mit einem mexikanischen Akzent getan hätte. Ich liebte sie. Das sage ich in der Vergangenheitsform, denn sie ist dem Tode geweiht. Weil sie mich damit in Verwirrung stürzt, schwanke ich zwischen den Zeiten hin und her, und davon wird mir ein wenig schwindlig. Sie steht noch da und sie stirbt, tut jedoch so, als wäre alles in Ordnung, das macht mir zu schaffen, schließlich habe ich sie vierzig Jahre lang gekannt. Um sie herum wucherte eine Art Nachkommenschaft, eine kleine Gruppe von Klonen mit wirren Dolchen, die sich unter ihr eingenistet hatten, wodurch sie selbst etwas schiefgerückt wurde. Immer mehr von ihren Wurzeln wurden auf diese Weise aus der Erde hochgedrückt, eine Geschwulst, überzogen mit einem Gespinst trockener brauner Fäden. Ihre Blätter sind zweifarbig, meergrün, blaßgelb abgesetzt an den Rändern, die mit diesen gemeinen Spitzen bestückt sind, ich mußte mich immer sehr vor ihr hüten. Jedes Jahr, wenn ich wiederkam, waren die unteren Blätter braun geworden und verdorrt, wie die Ledereinbände halb vermoderter Bücher aus einem dunklen Keller, Geheimnisse, die sich nicht mehr entziffern ließen. Wo ich sie abgesägt hatte, blieben bittere Wunden, die von ihrem Alter zeugten. Sie ertrug ihren Schiefstand mit böser Würde, der innere Kreis ihrer Blätter reckte sich mit gezückten Schwertern dem Licht entgegen. Sie sah mich all die Jahre älter werden, doch was sie über Zeit und Dauer dachte, weiß ich nicht, auch nicht, ob sie sie messen wollte. Vielleicht wußte sie, daß sie ihr eigenes Maß war und ihr eigener Zweck. In diesem Jahr erreichte sie ihr Ziel. Plötzlich erschien zwischen den gefährlichen Blättern in der Mitte ihrer Rosette ein grüner biegsamer Stengel, der jeden Tag länger wurde. Die Geschwindigkeit war beängstigend, er wuchs zehn Zentimeter pro Tag, ein hoch aufgerichteter grüner Phallus auf der Suche nach Vollendung, der sich im Wind bog. Als er nicht weiter wuchs, bildeten sich an seinem oberen Ende Trauben, die immer voller wurden, gelbgrüne, nach oben ragende Kugeln, jede dieser länglichen Kugeln die Verheißung einer weiblichen Blüte. Danach würde meine Agave sterben, Auftrag erfüllt. Von ihr bis zum Urknall verlief eine direkte Linie, Zufall gibt es nun einmal nicht, das hatte sie immer gewußt. Mir bleibt in Kürze der leere Platz unter der Palme und dem Oleaster. Vielleicht möchte einer ihrer Untermieter ja einen Neustart wagen. Ihre Identität läßt sie im Ungewissen. Agave marginata , sagt das Buch. Aber auch: hundertjährige Aloe. Und setzt im Flüsterton hinzu: »Allem zum Trotz, was der niederländische Name nahelegt, ist es keine Aloe.« Es würde mich nicht wundern, wenn sie insgeheim geschrieben hätte.

Poseidon XI
    A llsehend. Allgegenwärtig. Das wurde über unseren Gott gesagt. Der Vergleich mit dir drängt sich weiter auf, auch wenn dir das vielleicht lästig ist. Die Möglichkeit, alles zu sehen, stets überall gleichzeitig zu sein, doch in deinem Fall beschränke ich das wider besseres Wissen auf das Meer. Wider besseres Wissen, allein schon in der Ilias mischst du dich an Land in den Kampf, und später stellst du alles mögliche mit dem Meer an, um Odysseus in die Quere zu kommen, obwohl du Kafka zufolge immer in der Tiefe bleibst. Dieses von Kafka geprägte Bild hat also über Homer gesiegt, es läßt mich nicht los. Ich las, daß Borges einmal, als er für lange Zeit Buenos Aires verließ und mit dem Schiff aus der Mündung des Río de la Plata fuhr, vom obersten Deck aus eine Münze ins Wasser warf, vielleicht wie manche Leute es bei der Fontana di Trevi in Rom tun, in der Hoffnung, noch einmal dorthin zurückzukehren.
    Mit einemmal sah ich, als ich die Geschichte las, wie diese Münze den Weg in die Tiefe suchte. Ich stellte mir vor, wie sie dort unten vom Meerwasser angefressen und allmählich, vielleicht im Laufe von Jahrhunderten, zerfallen würde, und sah darin eine Metapher für das Werk des Dichters, das genauso langsam in der Zeit versinken würde, bis niemand mehr wüßte, von wem diese Worte stammten und

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