Nooteboom, Cees
was sie bedeuteten, ein Gedanke, den Borges erkannt hätte. Schließlich hat er einmal gesagt, von dem einen bleibe möglicherweise ein Œuvre, von einem anderen ein Gedicht und von wieder einem anderen lediglich ein Satz oder einige Worte, die sich ohne den Namen des Dichters in der Sprache eingenistet haben, ohne daß jemand ihren Ursprung noch kennt.
Du, der du überall bist und auf alles achtest, hattest die Münze natürlich herabsinken sehen. Indem ich das dachte, ließ das Bild mich schon nicht mehr los. Was hast du nicht alles herabsinken sehen? Und wie schnell geht das? Kannst du das messen? Der Ring des Dogen, einmal im Jahr während der goldenen Zeiten Venedigs. Es ist nur ein kleiner glitzernder Gegenstand, der vom Deck des Bucintoro geworfen wird, ein Ehering, den du jedes Jahr von neuem erhieltest, weil sich die Stadt, in der so viele Statuen von dir stehen, jedes Jahr von neuem mit deinem Meer vermählte. Ich stelle mir vor, daß der Ring sehr langsam im braunen Wasser der Lagune versank, doch wie verhält es sich mit anderen Dingen?
Wie langsam sinkt ein Mensch? Und wie sieht das aus? Schießen Fische und andere Jäger auf eine Leiche zu, die aus großer Höhe in die Tiefe hinabtrudelt oder -irrt und dann, nach einiger Zeit, wieder aufsteigt? Wird sie unter dem Druck, den du so gut aushältst, zermalmt und zerdrückt? Matrosen, Piraten, Taucher, Opfer von Haien, Schiffbrüchen, Selbstmörder? Wie lange benötigt ein Metallgegenstand für die sechstausend Meter durch die endlosen, lichtlosen Hallen deiner Tiefen? Schwebte die große Air-France-Maschine mit den Hunderten von Menschen an Bord schnell oder gemächlich? Ließ sie sich von der Strömung bewegen wie in einer Art trägem Tanz? Ein Roboter ohne Gefühl hat das Wrack gefunden, die Toten sitzen noch darin, genauso wie damals bei der Titanic , der Graf Spee , den so langsam gestorbenen Matrosen dieses russischen U-Boots, der Kursk . Vielleicht möchtest du nicht erzählen, wie das aussieht, es muß ein erschreckend stilles Ballett sein, das du schon zu oft gesehen hast, der langsamste Tanz ohne Musik.
Spaziergang
H inter meinem Fenster zuerst die Wiese, dann die Schlachtordnung der hohen Tannen, schwarze Krieger, totenstill. Sie erwarten den Angriff des Feindes. Über dem Heer der Hügel ein paar Bauernhöfe, ein zweiter Wald, der sich an den Hang schmiegt wie ein großes, faules Tier. Wenn ich nach unten gehe und das Haus verlasse, bin ich diese romantische Erscheinung, der einsame Wanderer, der auf keinem der dunklen Gemälde des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts fehlen darf. Was denkt dieser Wanderer? Wir wissen es nicht, und wir dürfen es auch nicht wissen, es würde ihn weniger einsam werden lassen, das ist nicht gut für das Gemälde. Ich gehe am letzten Schneefleck der vergangenen Wochen vorbei, fast alles ist bereits geschmolzen. Das macht den Boden matschig, er saugt an meinen Schuhen, ein schmatzendes Geräusch. Nach dem Weiß des Schnees ist die Erde jetzt tiefschwarz, wo sie noch leicht gefroren ist, habe ich Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Ich folge den Traktorspuren des Jagdaufsehers, hohe, feuchtglänzende Riffel, zwischen denen die letzten grauen Reste gefrorenen Schnees liegen. Ich gehe weiter in Richtung Bach. Das Wasser steht hoch infolge der Schneeschmelze, ich höre sein Murmeln, das ist das Privileg des einsamen Wanderers, ebenso wie den Jagdschrei des Bussards. Dieses hohe Iehie-hie ist für mich bestimmt, das weiß ich. Wo die Traktorspuren plötzlich nach links abbiegen, steht die primitive Holzraufe mit dem Heu für die Rehe. In letzter Zeit konnte ich stets ihre Spuren sehen, die zur Raufe und zum Bach führten, jetzt sind sie verschwunden, aber manchmal, gegen Abend, sehe ich die Rehe selbst, sanfte Schemen, für einen Moment sichtbaram Waldrand. Der Wald ist schwarz, nein, das stimmt nicht, in dem Schwarz verbirgt sich alles mögliche, doch um mich herum ist alles schwarz, bis der Weg plötzlich eine Biegung macht und das Licht unvermittelt zuschlägt. Hier an der Brücke beginnen die Hügel, die ich von meinem Fenster aus sehen kann, aber ich gehe noch nicht weiter. Ich beuge mich über das eiserne Geländer und blicke auf das schnelle Wasser, das Licht auf den durchsichtigen, strudelnden Wellen, die braunen und grauen Steine darunter. Nie sehe ich Fische, obwohl das Gewässer ziemlich breit ist. Hier beginnt ein anderer Maler, ohne Frage, denn ich gehe der Sonne entgegen, loderndes Feuer in den
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