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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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Fensterscheiben des Bauernhofs oben auf dem Hügel. Mit jedem Strich seines Pinsels werde ich ein anderer.

Zeuge
    I st einer, der bereits mehrere Tausend Jahre tot ist, genauso tot wie ein im Vorjahr Verstorbener? Gibt es eine Hierarchie im Totenreich, wonach ein älterer Toter einen anderen Status hat als ein Neuankömmling, der noch nicht von der Ewigkeit berührt worden ist, sondern noch nach Zeit riecht, nach Leben? Gibt es Standesunterschiede zwischen einer Mumie und einer Leiche? Diese Frage stellte sich mir beim Anblick eines Fotos aus dem Ägyptischen Museum in Kairo, das Besuch von Plünderern bekommen hatte.
    Sie hatten ziemlich gehaust auf der Suche nach Gold und Schmuck, nicht nach Mumien. Sarkophage standen kreuz und quer herum, und irgendwo auf dem Boden lag der Kopf eines Toten. Ein Gesicht, das aussah, als sei es gewöhnt gewesen, zu befehlen. Wer oder was er war, weiß ich nicht. Ein Adliger, Regierender, Priester, Rechtsgelehrter? Mumien haben keine Lippen, dadurch wirken ihre Zähne größer als die lebender Menschen. Das Gebiß dieses Toten schien besonders makellos, man hätte meinen können, er lache, wenn der Rest des Gesichts nicht so starr und ernst gewesen wäre. Es war ein vornehmes Gesicht, nicht jeder wurde einbalsamiert und in Tücher gewickelt, um so für immer auf die Reise zu gehen. Ernst ist vielleicht nicht das richtige Wort. Empört wäre treffender, oder fassungslos. Wer hatte ihn nach so langer Zeit derart grausam geweckt? Der Kopf wollte wissen, warum er in solch unwürdiger Weise und ohne den restlichen Körper, der doch immer zu ihm gehört hatte, auf dem Boden lag, in einem Raum, der in nichts dem Raum glich, in dem er all die Jahrtausende über im Dunkeln geruht hatte. Das war die erste Veränderung gewesen, an die er sich nicht hatte gewöhnen können, das plötzliche Licht, die Stimmen in unmöglichen Sprachen. Tot zu sein, daran gewöhnt man sich, vor allem wenn man es schon so lange ist. Licht war, nachdem man ihn aus seinem eigenen, vertrauten Grab geholt und in diesen Raum gebracht hatte, eine ständige Qual gewesen, von der er nur einmal in vierundzwanzig Stunden erlöst wurde. Aber am nächsten Morgen war es wieder da, weiß und kalt, als wäre die Sonne, die er jetzt nicht mehr sehen konnte, gefroren und könnte nur noch dieses kalte weiße Licht von sich geben. Und mit dem Licht kamen die Stimmen, doch schließlich hatte er sich auch daran gewöhnt, bis zu diesem Tag, an dem plötzlich das Geschrei des Aufruhrs hereingedrungen war. Es hatte nach Masse geklungen, nach Aufstand. Ihm wurde bewußt, daß er mit einemmal wieder ein Teil der Zeit war, daß zugleich mit diesen begehrlichen Händen, die seine Tücher weggezerrt hatten auf der Suche nach einem verborgenen Schatz, die träge Ewigkeit von ihm gerissen worden war und er wieder teilhatte an etwas so Undenkbarem wie einem Ereignis und damit dem Leben.

Poseidon XII
    O vid, Homer, du bist bei allen zu finden, mischtest dich in die großen Erzählungen, aber in der realen Welt warst du unsichtbar, manche Stimmen mögen sagen, das war dein Untergang. Du drangsaliertest Odysseus auf dem Weg nach Ithaka, gemeinsam mit Athene halfst du Achilles gegen Apollon an den Ufern des wütenden Skamander, doch wie sehr liebtest du die Griechen in späteren Jahrhunderten, die dich nach wie vor verehrten, aber nicht in einem Meisterwerk vorkamen? Wo warst du im Jahre 338, als Philipp II . von Makedonien in Chaironeia die Athener und Thebaner schlug und damit das Ende ihrer Kultur einläutete? Ist das eine Eigentümlichkeit der Götter, daß sie sich ausschließlich in Formen der Fiktion manifestieren und sich dünne machen, wenn es darauf ankommt? Vergeblich alle Gebete und Opfer? Chaironeia in Böotien, dort hättest du sein müssen. Das lese ich bei Polybios in seiner Weltgeschichte, doch es ist, als läse ich die Zeitung von heute, Truppenbewegungen, Gesandtschaften, Allianzen, Betrug, Schlachten, das alles hat nicht mehr aufgehört, sondern dauert bis zum heutigen Tag an, Syrien, Ägypten, Libyen. Polybios hätte weiterschreiben können, denn auch jetzt gibt es keinen Gott, den das kümmert. Demosthenes warf den Arkadiern vor, sie hätten Griechenland verraten, weil sie auf seiten des Makedoniers Philipp kämpften. Wie lange wirkt die Erinnerung an Verrat fort? Es sind mehr als zweitausend Jahre vergangen, und das notleidende Griechenland von heute will nicht, daß das unabhängige Mazedonien von heute diesen Namen trägt,

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