Nooteboom, Cees
weil Griechenland selbst innerhalb seiner Grenzen noch ein Stück des einstigen Landes besitzt. Polybios urteiltklar über den Vorwurf des Demosthenes. »Indem diese Philipp in den Peloponnes riefen und mit seiner Hilfe die Spartaner demütigten, haben sie zum erstenmal den Bewohnern des Peloponnes die Möglichkeit gegeben, aufzuatmen und den Gedanken der Freiheit zu fassen.« Die Trauer über die verlorene Größe wird erst später anklingen, bei Kavafis, der in einem Spiegelspiel von Anachronismen den Aufstieg der Barbaren und den Untergang des Hellenismus vorhersagte, eine Zukunft, verkleidet als Vergangenheit. Du hast diesen Untergang nicht aufhalten wollen. Oder vermochtest du es nicht, weil es sich nicht länger um einen Mythos handelte, sondern um Realität, Geschichte, Fakten? Wer die Macht hat, bringt seine Götter mit, wer die Macht verliert, läßt seine Götter fallen. Wenn man es so betrachtet, sind die dir geweihten Tempel, die noch stehen, der Beweis deiner Ohnmacht. Leere Hülsen aus Marmor, durch die der Wind weht. Nur in Geschichten konntest du überleben, doch welcher Gott wird erscheinen, wenn die Barbaren kommen?
Stuhl
D ie Maschine von Seoul nach Tokio hat vier Stunden Verspätung, die Art von Zeit, die dann beginnt, läßt sich nicht genau umschreiben. Am breiten Gehsteig vor dem Flughafen halten Busse und Taxis und fahren wieder los. Weiter draußen Abbruchgelände, Kräne, Beton, die ungeordnete Landschaft, die in manchen Ländern zu Flughäfen gehört. In der Ferne sehe ich etwas Grünes, aber es kostet Mühe, dorthin zu gelangen. Überall arbeiten gelb behelmte Männer an Trossen und Kabeln, die in eine unterirdische Welt führen, ich muß durch mehrere frisch ausgehobene Laufgräben, vorbei an Betonbrüstungen, dann bin ich da. Es ist ein kleiner Hügel, das letzte Überbleibsel dessen, was vielleicht einmal ein Park war. Ich steige hinauf durch das wilde, nicht mehr gemähte Gras, kleine silbrige Insekten fliegen vor mir her.
Von allen Seiten der Lärm von Planierraupen und schweren Lastwagen, Kriegsmusik des Fortschritts. Herabgewehte Zweige, gestern zog ein Taifun dicht an Korea vorbei. Etwas weiter ein paar fernöstliche Nadelbäume, wie auf chinesischen und japanischen Zeichnungen, Tusche mit Wasser, alles leicht verwischt, laviert, fast der Strauch selbst, aber nie ganz. Dann sehe ich ihn plötzlich, wie eine Offenbarung, deren Sinn ich noch nicht zu erfassen vermag: Unter ein paar Kiefern steht ein ungeheuer blauer Plastikstuhl, ein Schrei in einem leeren Raum. Als drohe Gefahr, so vorsichtig gehe ich auf ihn zu. Die Zweige über dem Stuhl bilden einen Schirm, der auf einer Seite infolge von Schiefwuchs bis zum Boden reicht. Wer den Stuhl hier hingestellt hat, wußte, was er tat. Jemand muß ihn regelmäßig benutzen, um ihn herum liegen ein paar Kippen als Botschaft: Dies ist nicht dein Stuhl. Ich weiß es. Ich bin der Eindringling. Jetzt sehe ich, daß sehr dünne silberne und goldene Fäden mit einer winzigen Schleife um die Baumstämme gebunden sind, magische Botschaften an den Geist der Bäume. Derjenige, der zu dem Stuhl gehört, hat sein Fahrrad an einem der Stämme angeschlossen. Ich bleibe einen Moment ganz still stehen, dann setze ich mich. Von hier aus muß dieser andere jeden Tag sehen, was ich sehe, einen trockenen Boden voller Nadeln und kleiner Kiefernzapfen, ein abgesägtes Holzstück, etwas verdorrtes Gras. Eine Grille dreht ihre Gebetsmühle, leise, als schäme sie sich oder wundere sich selbst über die Einsamkeit dieses Geräuschs. Mehr gibt es nicht, einen leichten Wind, ein wenig Blättergeraschel, eine Elster mit blau leuchtenden Bahnen in den Schwingen wie die Fahne eines unbekannten Landes. Etwas weiter weg, dort, von wo ich gekommen bin, das Getöse und die Bewegung der Welt. Flugzeuge, Bagger, die ranzige Architektur eines Flughafens. Jetzt spüre ich, wie sich der Augenblick dehnt, vielleicht sitze ich hier schon hundert Jahre, ein Mann auf einem blauen Thron unter einem Baldachin aus Kiefernzweigen, ein Plastikkönig ohne Untertanen.
Erst nach Ablauf dieses Jahrhunderts danke ich ab, langsam und feierlich gehe ich durch den sterbenden Park den Hügel hinunter. Ich gehe nicht, ich schreite. An der Grenze drehe ich mich noch einmal um für den Abschied. Er steht da sehr still, der blauste Stuhl der ganzen Welt. Das Geheimnis mancher Freundschaften läßt sich anderen nicht vermitteln.
Esel
E s gibt das Geräusch, und es gibt das Licht. Das Geräusch
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