Nooteboom, Cees
Ohren, Augen, Händen, und sieht hinter Mäulern, Krallen, Stoßzähnen, Schnauzen dasselbe System des Greifens, Schauens, Hörens, Fressens, so treten die Verwandtschaft und die Fremde immer deutlicher zutage. Vielleicht bin ich deshalb hier, dieser Nähe und Distanz wegen. Wenn ich mich auf Hände und Füße stelle, wenn meine Arme gedehnt werden, bis sie länger sind als meine Beine, wenn ich die Kleider ablege und meine Haut sich mit kurzem, glänzendem Haar in merkwürdigen Mustern überzieht, die niemand gezeichnet hat, und wenn dann noch jemand kommt, der meinen Hals bis in endlose Höhe reckt, so daß ich, wie die beiden vor mir, hoch über die Menge hinausrage und wie ein Schiff vorbeigleite, dann kann ich nicht mehr schreiben, werde aber vielleicht von diesem herrlichen Gefühl ewigen, ruhigen Staunens über das merkwürdige Gewimmel da unten erfüllt, das in diesem kleinen Kopf herrschen muß. Und dann passiert es, ein Bild unmöglicher Liebe. Hinter der Palisadenwand, die die Giraffen von den Zebras trennt, steht ein Zebra und leckt am Holz. Eine der Giraffen senkt diesen unvorstellbar langen Hals über den Zaun und sucht dort unten das Zebra. Was nun folgt, ist Streicheln und eine Art Küssen. Ihre Fellmuster passen nicht zueinander, und dennoch gehen sie ineinander über. Liebe. Das Zebra leckt den langen Hals, das Gesicht der Giraffe reibt sich an der gestreiften Zebrawange. Dann löst sich die Giraffe, entfernt sich ein Stück weit auf dem wüstenfarbenen Sand ihres eigenen Geheges und kommt zurück. Das Zebra ist stehengeblieben, wartend. Sobald der Giraffenkopf wieder hoch über ihm erscheint, hebt es den eigenen Kopf, und die Liebkosungen beginnen von neuem, die Mäuler berühren sich. Ich bleibe stehen, bis der letzte Aufruf ertönt, und denke an das nächste Mal. In fremden Städten muß man feste Punkte haben.
Poseidon XVIII
I ch versuche es mir vorzustellen. Du hast Alope gesehen, die Tochter des Kerkyon, König von Eleusis, blaue Augen, blond, auf der Wiese tanzend, ein Reh. Überall Könige, überall Töchter und Unschuld, und stets deine unbezähmbare Geilheit. Wie ihr die Beziehungen auseinanderhieltet, ist ein Rätsel, denn Kerkyon war ein Sohn des Hephaistos und der wiederum ein Sohn deines Bruders, geboren nach einer vierhundert Jahre langen Hochzeitsnacht, nichts ist zu verrückt oder zu abwegig in eurem ewigwährenden Paarungstanz. Du findest sie hübsch, du willst sie, bekommst sie, ein Kind wird geboren, einer deiner unzähligen Söhne und Töchter, göttlich oder nicht, ein großer Teil der Menschheit stammt auf diese Weise von euch ab. Kerkyon weiß nichts von diesem Kind, Alope hat Angst vor ihrem Vater, übergibt das Kind einer Amme, die es irgendwo auf einem Berg aussetzen soll. Natürlich wird es gefunden, sonst gäbe es keine Geschichte. Hyginus, der das alles niederschrieb, beherrschte sein Metier. Eine Stute säugt das Kind, ein Hirte sieht es und nimmt das in seinen königlichen Umhang gewickelte Neugeborene mit in den Stall, man weiß schließlich nie, ob man nicht einen Königssproß gefunden hat, und auch Hirten kennen die Konventionen des Erzählens. Ein anderer Hirt ist bereit, das Kind großzuziehen, will dann aber auch den Goldbrokat haben, eine königliche Herkunft muß man beweisen können. Zwei kämpfende Hirten, doch zu jener Zeit waren Könige noch nicht so beschäftigt, folglich müssen die Hirten vor Kerkyon erscheinen, um den Streit beizulegen. Könige erkennen königlichen Stoff, auch sie wissen, wie Geschichten geschrieben werden, die Amme muß gestehen, Kerkyon läßt Alope einsperren und das Kind ein zweites Mal aussetzen. Denkst du je darüber nach, was du alles angerichtet hast? Alle diese verzweifelten Geschichten, die stets mit irgendeiner Metamorphose enden, wobei die Natur die Sache für dich erledigen muß. Die Stute darf wieder das Kind säugen, das nun vom zweiten Hirten gefunden wird, der ihm diesmal einen Namen gibt, Hippothous. Das ist also ein Sohn von dir. Von dir und von Alope, die inzwischen im Gefängnis gestorben ist, ohne daß du je eine göttliche Hand nach ihr ausgestreckt hättest. Nicht einmal ein anständiges Begräbnis bekam sie, sondern wurde irgendwo auf dem Weg zwischen Eleusis und Megara unter die Erde gebracht, dort, wo Kerkyon seine Ringkämpfe veranstaltete. Erst da trittst du in Aktion mit einem göttlichen Trinkgeld: Du verwandelst den Körper, den du einmal so begehrt hast, in eine Quelle. Eine kümmerliche Belohnung
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