Nooteboom, Cees
für geleistete Dienste, oder glaubst du vielleicht, das sei etwas Tolles, eine Quelle zu sein? Manchmal kann ich diese vielen Geschichten nicht mit der Marmorstatue neben dem Arsenal in Venedig in Einklang bringen, nicht mit der mächtigen, dreizackbewehrten Gestalt auf den Gemälden der großen Meister, nicht mit der orkanartigen Wut, mit der du Odysseus jahrelang verfolgtest, mit der du die Küsten der ganzen Welt heimsuchst, auch heute noch. Wenn ich an dich denke mit all den Nymphen und Mondmädchen, sehe ich eher das frivole Porträt, das Kees van Dongen von sich selbst in der Gestalt malte, die in seiner Vorstellung die deinige war, ein junger, geiler Polynesier, mit Ketten und Muscheln behängt, ein merkwürdiger Pilger mit Jakobsmuscheln um die schlanke Taille, ein olivfarbener Bewohner Ozeaniens, das immerhin, auf der Suche nach Königstöchtern, die er nach Gebrauch irgendwo unterwegs in Form einer Quelle zurücklassen kann. Jetzt muß ich natürlich aufpassen, wenn ich das nächste Mal im Meer schwimme, aber irgend jemand mußte sich doch für Alope einsetzen, und ich habe sie vor mir gesehen.
Leben
W ann hat jemand existiert? Eine solche Frage stellt sich natürlich nicht für Götter, die, wie Hesiod so klar sagt, »immer sind«. Nein, diesmal geht es um Menschen, Sterbliche, vergängliche Wesen, die länger leben als Blumen oder Insekten, aber kürzer als manche Schildkröten. Die meisten Menschen haben existiert, weil sie gelebt haben. Das heißt, sie haben für sich selbst und für ihr Umfeld existiert, doch wenn sie nicht mehr da sind oder wenn das Umfeld gestorben ist, bleibt für gewöhnlich keine Erinnerung an sie. Wie schlimm das ist, sei dahingestellt. Es hat Milliarden von Menschen gegeben, Priester in der griechischen Antike, Gefangene bei den Azteken, Beamte bei den Ägyptern, Jäger im fünfzehnten Jahrhundert in Österreich, Mönche in den spanischen Kolonien, Opfer bei Erdbeben, Soldaten im Burenkrieg, deren Existenz als Gattung wir zur Kenntnis genommen haben, in der Regel aber nicht als Person. Ist das schlimm? Ändert das etwas an der Gültigkeit ihres Lebens? War es ein weniger echtes Leben, weil wir nichts davon wissen, weil wir ihre Namen nicht kennen und nicht den Ort, an dem sie begraben sind? Für sie selbst gab es nur dieses eine Leben von der Geburt bis zum Tod, ein glückliches oder elendes Dasein, ein aufregendes oder ödes, am Rand historischer Ereignisse oder mittendrin. Vielleicht haben sie ihren Namen nicht im Buch der Geschichte hinterlassen, das ohnehin immer weniger gelesen wird, und nochmals: Ist das schlimm? Ist es schlimm, daß sie nichts erfunden, kein Buch geschrieben, keinen grauenhaften Mord begangen haben? Nein, aber warum denke ich dann heute an eine bucklige Herzogin, die so gut tanzen konnte, an einen unerhört schamlosen Marquis, anden bösartigen Herzog, der auf dem Pont Royal, unterwegs zu einem Faschingsfest, sein Sprechvermögen verlor und kurze Zeit später auf der Toilette starb, das Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt? Wie kommt das? Es ist später Abend, und man schlägt einen der vielen Bände der Erinnerungen des Herzogs de Saint-Simon auf einer beliebigen Seite auf, bei einem beliebigen Jahr, in diesem Fall 1710, das Leben am Hofe Ludwigs XIV ., Weltpolitik, Hofintrigen, Fragen von Rang und Macht, Klatsch, festgehalten mit einer gnadenlosen Feder, die die in wenigen Sätzen beschriebenen Menschen unbarmherzig beleuchtet und so als lebendige Wesen aus dem Dunkel der Vergessenheit hervortreten läßt. Drei Menschen, die innerhalb kurzer Zeit rasch nacheinander gestorben waren und deren er mit wenigen Federstrichen gedenkt. Die Herzogin von Foix, »die schönste bucklige Frau, die man sich vorstellen kann«, der Marquis von Courcillon, »ein Mann, der keinem anderen glich , der barsche Scherze machte, als sein Bein nach der Schlacht bei Malplaquet amputiert wurde«, Monsieur le Duc, »von nahezu zwergenhaftem Wuchs, nicht fett, aber recht stämmig, hatte einen massiven Schädel und ein furchterregendes Gesicht. Seine Haut war fahlgelb, die Miene fast immer grimmig, jedenfalls derartig hochmütig und verwegen, daß man sich nur schwer an den Anblick gewöhnen konnte. Er war geistreich, belesen, verfügte überdies über ausgezeichnete Manieren, Höflichkeit und, wenn er wollte, sogar Anmut; aber er wollte nur selten.« Ich höre das ungestüme Kratzen einer Feder auf Büttenpapier, sie wurden in Worten geätzt und beschrieben, für
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