Nooteboom, Cees
fort. Jetzt, da sie nicht mehr da ist, habe ich guten Blick auf eine jüngere Frau mit roten Haaren, die ein Buch liest. Du hättest sie gewollt und bekommen, so wie du alle bekamst, Alope und all die anderen. Auch wenn du dich dafür in einen Hengst verwandeln mußtest, wie bei Demeter. Die Frau hat ihr rotes Haar zu einer Art Turm geflochten, flüchtige Architektur, die ihr etwas von einer Priesterin verleiht. Sie sitzt unter dem Spiegel, dadurch sehe ich den fragilen Turm doppelt. Du hättest sie benutzt und danach in eine Quelle oder einen Stern verwandelt. Sie hat schlanke Hände, wie Alope. Frag mich nicht, woher ich das weiß. Ich lasse sie allein mit den Worten ihres Autors und verwandele sie in Worte, die sie nie lesen wird. War es Liebe bei Alope, oder war es eine mit Schmeicheleien garnierte Vergewaltigung, das perverse Privileg von Göttern? Bus 92, Bus 101, das Schwarz und Orange der Funktaxis im eisigen Neon der Lampen draußen, Bilder vom Krieg, Musikfetzen und die unbekümmerten Stimmen von Menschen, ein Mann in Schwarz mit einer weißen Plastiktasche und das siebte Flugzeug, ein toter Freund in der Ferne, es passiert absolut nichts.
Schwestern
E s geschieht jeden Herbst. Schwarze Würmer auf meinen weißen Wänden, längliche Schriftzeichen auf einem leeren Blatt. Sie kommen einzeln, folglich entstehen keine Wörter oder Sätze, es gibt nur diesen einen langgedehnten Buchstaben aus Fleisch, der verzweifelt versucht, etwas zu bedeuten. Fleisch ist ein Euphemismus, es muß zwar etwas in der Art sein, sieht aber nicht danach aus. Sie fühlen sich hart an, wie Plastik, als wären sie in irgendeiner Fabrik hergestellt. Ob die Vögel sie mögen, ist nicht klar, ich vermute, nein, sie würden sich sonst nicht so anbieten. Ich fasse sie zwischen Daumen und Zeigefinger, der Wurm versucht, sich zusammenzurollen, doch man spürt, er oder sie ist eigentlich zu steif dafür. Jeden Tag finde ich ein paar, ihre traurige Schrift drückt Todessehnsucht aus, aber so genau ich sie auch betrachte, eine Form von Kummer kann ich nicht erkennen. Wo sie während des restlichen Jahres sind, weiß ich nicht, ob sie irgendwann saftig, fett waren, ein Leckerbissen für die Amseln, die jetzt bereits weggezogen sind, werde ich nie wissen. Für mich gehören sie zu den Schnecken, die kommen, sobald es geregnet hat, und zu dem düsteren schwarzroten Leuchten des Admirals, der jedes Jahr auf demselben Aeonium-Gewächs landet, um mich an die Vergänglichkeit zu erinnern. »Jegliche Weltkugel hat ihre besondere Einrichtung, ihre Gesetze, ihre Erzeugnisse«, schrieb Charles Bonnet 1764 und fuhr fort: »Vielleicht gibt es Welten, die, in Absicht auf unsre, so unvollkommen sind, daß sie nur Wesen der ersten, oder der zweiten Klasse enthalten. Im Gegenteil können andre Welten dermaßen vollkommen sein, daß sie nur Wesen der höheren Klassen in sich begreifen. In diesen sind die Felsen organisiert, die Pflanzen empfinden, die Tiere machen Vernunftschlüsse, die Menschen sind Engel.«
Das Thema beschäftigte sie sehr, im achtzehnten Jahrhundert. Kant wollte nicht behaupten, alle Himmelskörper seien von Wesen mit einem Bewußtsein bewohnt, war sich aber sicher, daß Leben und Denken nicht auf die Erde beschränkt sein konnten und daß etwas so Armseliges wie der Mensch unmöglich das Beste sein konnte, das die Natur hervorzubringen vermochte. Joseph Addison ging noch einen Schritt weiter. Er betrachtete den Menschen als Bindeglied zwischen der geistigen und der tierischen Welt und folgerte: »Er also, der einerseits den Engeln und Erzengeln nahesteht und ein unendlich vollkommenes Wesen als Vater und die erhabensten Geister als seine Brüder betrachten darf, kann andererseits zur Fäulnis sagen: Mein Vater, und zum Wurm: Meine Schwester.« Daher fasse ich meine Schwestern immer so vorsichtig an, wenn sie kommen, um mir den Herbst anzukündigen. Ich halte ihren traurigen, harten buchstabenförmigen Körper kurz zwischen den Fingern und lege sie zärtlich zwischen die Büsche für die stets gefräßigen Ameisen. Ruhe sanft. Letztendlich gibt es immer jemanden, der dich liebt.
Walfisch
E in Wal wiegt über hundert Tonnen, soviel wie ein anständiges Schiff, doch dieses Schiff besteht aus Fleisch, und Fleisch ist sterblich. Woran stirbt ein Wal? An Erschöpfung auf ozeanisch langen Wanderungen, an Alter, an Hunger. Was passiert, wenn ein Wal stirbt? Ein Schiff sinkt auf den Grund des Ozeans, mitunter Tausende von Metern tief. Und dann
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