Nooteboom, Cees
einen kurzen Moment befand ich mich im Jahr 1710 und habe sie gesehen, drei unvermittelt aufgetauchte Zeitgenossen mit einem Buckel, einem amputierten Bein und dem Grinsen des plötzlichen Todes.
Stier
E s sind neunzig Menschen, sie sind halb nackt, ihre Körper sind rot bemalt, zusammen bilden sie einen Stier. Sie ruhen auf einem Untergrund aus hellen Steinen in Cali, Kolumbien, sie sind die Beine, der Rücken, der gewaltige Leib, der Kopf und die Hörner eines Stiers, rot von Blut. Die beiden am weitesten vom Betrachter entfernt liegenden Körper sind die Hörner. Wie lange die neunzig dort so gelegen haben, weiß ich nicht, das ist auf dem Foto nicht zu erkennen. Einige haben die Beine weit gespreizt, andere halten ihren Kopf mit den Armen umfangen, die die Beine des Stiers darstellen, liegen mit dem Kopf zum Stierbauch, während die vom Bauch ihren Kopf den Füßen jener zugewandt haben, die den Rücken bilden, angenehm kann es nicht gewesen sein, es ist, als hätte eine besondere Form von ordnungsbewußtem Schicksal diese Menschen getroffen, wodurch das Bild gerade nicht der Ikonographie unserer alltäglichen Gewalt auf den Titelseiten gleicht, einem afghanischen Gemetzel oder den Folgen eines pakistanischen Selbstmordanschlags. Hier stellen neunzig lebende Menschen die atavistische Form eines toten Tiers dar, sie haben ihre Körper sorgfältig niedergelegt, ich glaube ihnen, die neunzig Körper sind zu einem toten Tier geworden. Wo sich in etwa die Nackenwirbel befinden, liegt zwischen zwei Armen frivol gefärbtes Papier, das die Banderillas darstellen soll, die fähnchengeschmückten gemeinen Spieße, die der durch die Luft fliegende Matador dem Stier in den Nacken bohrt, um ihn aufzustacheln. Sie müssen so fest sitzen, daß sie mit seinen wütenden Sprüngen mittanzen. In dem Augenblick, in dem das Foto gemacht wurde, muß es ganz still gewesen sein, ein toter Stier bewegt sichnicht. Ich betrachte noch einmal die Kraft des Kopfes und dann die Hörner. Es ist nicht leicht, mit einem Menschenkörper das gebogene Horn eines Stiers nachzubilden. Ich versuche mir vorzustellen, was geschähe, würde dieser Stier seine neunzig Körper zusammenfügen, um aufzustehen, und wie der Theseus aussehen müßte, der ihn abermals töten würde.
Poseidon XIX
N ichts. Es passiert absolut nichts. Ich bin aus einem Film weggegangen, dessen Ende ich vorhersagen konnte, und jetzt sieht mein Universum aus wie ein Café in Buenos Aires, dessen Namen ich nicht kenne. In Kreide stehen Gerichte auf einer Tafel geschrieben, doch ich habe keinen Hunger. Draußen rennt Großverkehr vorbei, Busse und Taxis auf dem Boulevard des Befreiers. Draußen stimmt somit alles. Es ist neunzehn Uhr siebenundfünfzig. Winter ist es hier, und daher dunkel. Ich sehe die Lichter eines Zuges, dann die eines großen Flugzeugs im Steigflug. Die Frau am Nachbartisch liest La Nación , danach Clarín . Im Spiegel an der Wand ein Stück weiter agiert auf dem Fernsehschirm eines dieser Gelegenheitsehepaare, ein Mann und eine Frau, die im wirklichen Leben nicht zueinander gehören, jeden Tag aber gemeinsam die Neuigkeiten aus aller Welt verkünden, Schlachtfelder, Leichen, Minister, Protestmärsche, brennende Autos, Fußball, die unnachahmliche Effekthascherei der Börsen. Ihre Münder bewegen sich, doch ihre Stimmen sind nicht zu hören. Ich schaue auf das große weiße Zifferblatt der Uhr, der schmale Sekundenzeiger bewegt sich mit kleinen, verhaltenen Sprüngen, die den Rhythmus des Herzschlags haben. Gestern kam die Nachricht vom Tod eines Freundes. Ich denke an seinen Leichnam, der jetzt auf der anderen Seite der Welt in irgendeinem Abschiedsraum liegt. Er war stets ein Mann von guten Manieren, und somit starb er an seinem kleinen Schreibtisch im Erdgeschoß seines alten Amsterdamer Hauses. Hätte der Tod ihn oben überrascht, so hätte man ihn mit einer Winde nach unten befördern müssen. Seine Körpermaße standen im Kontrast zu seiner Liebe zum zerbrechlichstenantiken Glas. Manchmal denke ich, ich lebe deshalb länger, damit ich des Todes mancher Freunde gedenken kann. Jemand hat mal geschrieben, ich reiste so viel, um dem Tod zu entrinnen. Der hat also nichts begriffen. Dem Tod entrinnt man nicht, nicht dem eigenen und nicht dem der Freunde, egal wo man sich aufhält. Nur Götter sind unsterblich, wenngleich ich da meine Zweifel habe. Das sage ich nicht gern, aber du antwortest ohnehin nicht, deine beste Eigenschaft. Die zeitunglesende Frau ist
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