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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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beginnt der große Leichenschmaus. Er kann hundert Jahre dauern, mit Tausenden von Gästen verschiedenen Ranges und verschiedener Herkunft. Was sie gemein haben, ist der Hunger. Dort unten gibt es wenig zu fressen. Kleine organische Teilchen tauchen von der unsichtbaren Oberfläche, die der Wal jetzt verlassen hat, hinab ins Dunkel, das ist in der Regel alles, daher die Aufregung angesichts der Mahlzeit. Die Gäste, die einander meist nicht kennen wollen, arbeiten gemeinsam an einem verwirrenden Bestattungskunstwerk, einer verstreuten Ansammlung riesiger Knochen, dem verlassenen Skelett eines Meeresriesen, der einmal dreißig Meter lang war – Erinnerung an eine Mahlzeit, in Stille, Kälte und Tiefe eingenommen von den Beisetzungsteilnehmern, die Totengräber und Friedhof zugleich sind. Gegen Ende des Festes, viele, viele Jahre später, sind die meisten Gäste im übrigen selbst gestorben. Nicht alle leben gleich lang, nicht alle bekommen das gleiche zu essen. Es muß ein atemberaubender Anblick sein. Träge sinkt der große Leichnam in die immer dichtere Finsternis dort unten, gewiegt von der Bewegung der See. Er schwingt, als wäre er etwas sehr Kleines in einer Choreographie von Tod, Schwerkraft und Strömung, bis er endlich den Grund erreicht. Die Glocke zum Essen läutet ein Pestilenzgeruch, eine Welle sich nach allenSeiten verbreitenden verdorbenen Wassers. Haie und leichenfressende Aale sind die ersten Gäste, zusammen mit fast vierzig Arten von Schalentieren und Fischen, Krebsartigen und anderen Gepanzerten mit Klauen und Haken, jeder, der diese große Tiefe aushalten kann, meldet sich zur Stelle, frißt sich durch Blubber und die Fäulnis weichen Fleisches, bis er beziehungsweise sie nicht mehr kann, diese Vorspeise dauert Monate oder, wenn es sich um einen ausgewachsenen Blauwal handelt, auch zehn Jahre, Zeit spielt dort unten keine Rolle. Etikette auch nicht, die rabelaisschen Esser kleckern, verschlucken sich, kotzen, scheißen, Speisereste fallen zwischen die Stühle, auf denen schon eine neue Tafelrunde sitzt, bereit für den nächsten Gang, Würmer, Schnecken, Schalentiere fressen sich satt am organischen Reichtum von verfaulendem Fleisch, von Matsch und Bakterien. Sie sind aus zig Kilometer Entfernung gekommen, denn, wiederum, Zeit spielt keine Rolle, während des Essens wird begattet und geboren, eine neue Brutgeneration treibt weiter auf der Suche nach der nächsten Leiche, schließlich sterben fast siebzigtausend Wale im Jahr, und jeder dort unten kennt die Route der lebenden Schlachtschiffe und weiß um ihre Sterblichkeit. Alles ist eine Frage des Wartens und Überlebens, und das ist auch den knochenfressenden Würmern bewußt, die auf das Skelett gewartet haben, Geduld ist alles. Sie scheiden große Mengen von Schleim aus, der auf Walknochen und das in ihnen steckende Wunderöl versessen ist, wie kleine feuerrote Palmen sehen sie aus, und sie haben ein grünes Wurzelsystem, imstande, Walknochen auszuhöhlen, sie haben sogar eine Bakterienzucht bei sich, die das Wunderöl zersetzen kann, und damit ist dieser Wurm das erste Tier, das die fettreichen Walknochen auf dem Grunde des Ozeans abzubauen und die darin enthaltene reiche Nahrung (sechzig Prozent Fett, deshalb schwimmen Wale so munter) herauszuholen vermag. War das alles? Nein, es gibt auch noch ein Dessert, und das lockt die Bakterien an, als erstes eine Gruppe, die Sauerstoff einatmen kann, undwenn dieser Sauerstoff aufgebraucht ist – das geht schnell –, kommen andere, die Sulfat einatmen können und das Sulfat des Meereswassers in nahrhaftes Sulfid verwandeln, Festmahl für wieder andere Gäste, kleine und große Muscheln melden sich zur Stelle für ihren Teil des Bacchanals, das jetzt in eine veritable Chemiestunde ausartet: Vierhundert weitere Tierarten leben noch jahrelang in und an dem Walskelett. Wer einen Wal tötet und nach Hause mitnimmt, bricht die Harmonie der Nahrungskette. Ein Bild ist mir von dieser heiligen Kommunion besonders in Erinnerung geblieben, ein weißer, schneefarbener Schleier aus Bakterien auf der dramatischen Skulptur der zerfallenen Knochen, der letzte Gang, der kein Ende zu nehmen scheint, ein Opfermahl in der Ruine einer eingestürzten Kathedrale. Wenn es stimmt, was Kafka sagt, so hat der göttliche Buchhalter mit dem Dreizack alles genau registriert. Kein Wunder, daß er nie heraufkommt.

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