Nooteboom, Cees
ich den kalten Wind, der vom Meer kommt. Große Wolkenschiffe treiben vorbei, sie haben bereits die Farbe der Nacht. Wind bewegt die wilden Olivenbäume rund ums Haus. Elaios hießen diese Bäume im Altgriechischen von Rhodos, sie sollten die bösen Geister von den Menschen fernhalten. Der Esel der Nachbarn klagt die Welt an. Dies ist die Stunde der Eulen und Triele, wenn alles, was keine Worte hat, dennoch etwas sagen will. Ich habe mich in den letzten Jahren mit der Fiktion beschäftigt, die du bist, denn was seid ihr anderes als Träume, Fiktionen, Antworten auf die Fragen ohne Antwort, aus denen wir bestehen. Wir haben euch Attribute zugeteilt, an denen wir euch erkennen können, ihr solltet uns ähneln, damit auch wir Teil der Fiktion würden. Wir haben mitgespielt, geopfert, gebetet, haben uns gefragt, ob auch wir für euch eine Fiktion sind, ein Schatten und ein Spiegelbild in unserem ewigen Spiel von Ankunft und Abschied, von Blüte und Vernichtung, wir, die wir uns genausowenig wie ihr je verändern. Wenn du mich ausgelacht hast, soll es mir recht sein, ich kenne meinen Platz. Aus der Zeit vor der Schrift wart ihr, Sinnbilder einer Wirklichkeit aus der Zeit vor der Geschichte, in der Frauen noch Macht hatten, in der sie sich Könige für ihr Lager wählten, die nach ihrem rasch verfliegenden Dienstjahr getötet wurden, von den Felsen ins Meer geworfen oder in Stücke gerissen. In euren Geschichten klingen Völkerwanderungen an, Kampf um die Hegemonie zwischen Landstrichen und Inseln, zwischen Frauen und Männern, in ständig wechselnder Gestalt kamt ihr aus dem Osten, stets neu geformt nach dem Bild der Menschen, die für euch da waren und die ihr ersonnen habt, um die Welt zu verstehen, bis der Augenblick kam, in dem wir begriffen, daß alles ein Traum war, ein Gedicht, das von euch zu handeln schien, die ganze Zeit jedoch nur von uns handelte. Als ihr nichts mehr sagtet, fuhren wir fort zu fragen, Tausende und Abertausende von Antworten haben wir zum Kleinsten und zum Größten gefunden, zum Sichtbaren und zum Unsichtbaren, in Kürze reisen wir zu den Planeten, die eure Namen tragen, denn noch immer sind wir auf der Suche nach der Antwort, die vor uns ausweicht. Manchmal blicken wir in einem Anflug von Heimweh auf eure Standbilder, die die Abbilder unseres Wunsches nach Macht und Unsterblichkeit sind, nach Schutz in den großen, leeren, bodenlosen Sälen des Universums. Du hast nie geantwortet, das war auch nicht nötig. Wenn ich am Meer stehe, höre ich dich mit deinen tausend Stimmen. Manchmal schreist du, stürmisches Gelächter, das alle Fragen verhöhnt, in anderen Nächten bist du totenstill, ein Spiegel, in dem die Sterne sich sehen. Dann denke ich, daß du mir etwas sagen willst, aber das tust du nie. Natürlich weiß ich, daß ich Briefe an niemanden geschrieben habe. Doch was ist, wenn ich morgen auf den Felsen einen Dreizack finde?
San Luis, Juli 2008, Hofgut Missen, 2. Juni 2012
Anmerkungen
Abb. 1
Poseidon I
Abb. 2: Die zwölf olympischen Götter, Relief aus dem frühen
5. Jahrhundert, angeblich aus Tarentum
Trauung mit einem Hut
La Dépêche , 25. Juli 2008
Belagerung
Pieter Snayers (1592-1667), flämischer Maler, Schüler von Sebastian Vrancx, berühmt für seine phantastischen, mit großem Gespür für Details gemalten Schlachtenbilder, prachtvolle Szenen von topographischer Genauigkeit. Auch kleinere Kriegsszenen, Gemälde von Reitergefechten und Jagddarstellungen gehörten zu seinem Repertoire.
Abb. 3: Pieter Snayers, Asedio de Aire-sur-la-Lys (Belagerung von
Aire-sur-la-Lys), 1653, Museo Nacional del Prado, Madrid
Invalides
Abb. 4: Le Monde berichtete am 21. August 2008 online über die
Trauerfeier für die in Afghanistan gefallenen französischen Soldaten.
Poseidon III
Franz Kafka, »Poseidon«, in Franz Kafka, Verzameld Werk . Em. Querido's Uitgeverij B. V., Amsterdam 1987
Fluß
Abb. 5
Challenger
Abb. 6
Abb. 7: Lindau, Marktplatz
Poseidon IV
»un punto solo m'è maggior letargo,
che venticinque secoli alla impresa
che fé Nettuno ammirar l'ombra d'Argo«
»Ein Augenblick nur ist mir längeres Träumen
Als Fünfundzwanzighundert Jahre waren,
Seit einst Neptun ob Argos Schatten staunte.«
Dante, Paradiso , Canto XXXIII , 94, 95, 96
Dante Alighieri, Divina Commedia . Met een nederlandsche vertaling von Frederica Bremer, H. D. Tjeenk Willink & Zoon N. V., Haarlem 1941
Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie . Band III , Dritter Teil, »Paradiso –
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