Nooteboom, Cees
sich in einer Tiefe von hundert bis viertausend Metern auf. Dort unten, hat Monod gesagt, herrschen Kälte, Dunkelheit und Hunger. Mäuler, Tentakel, fächelnde Pfeile, Flügel mit Zähnen, Membranen mit elfenbeinernen Haken, getarnt oder durchsichtig, in eisiger Kälte wartet, jagt, frißt Hieronymus Boschs Pandämonium, der Hofstaat des Meeresgotts. Er hat sie nicht geschaffen und muß sie dennoch alle kennen.
Stein
D ie Anziehungskraft mancher Gegenstände, vor allem wenn sie keinerlei objektiven Wert besitzen, läßt sich nicht immer erklären. Es geht um etwas, das ich der Einfachheit halber als Stein bezeichne, obwohl es keiner ist. Und dennoch, würde ich meinen Stein, der keiner ist, nach jemandem werfen und er träfe ihn, so würde dieser behaupten, ich hätte einen Stein auf ihn geworfen.
Es war an einem regnerischen Nachmittag in Buenos Aires. Ich hatte erfahren, daß es unweit des Zentrums am Ufer des Río de la Plata einen Naturpark gebe. Am Eingang stand ein Schild, das behauptete, der Park sei geschlossen, doch das Tor stand etwas offen, und ich betrat das Gelände. Mit einemmal war die Stadt verschwunden, ich ging durch ein lagunenartiges Gebiet, bräunliche, als abgestorbenes Schilf getarnte Pflanzen, die aus dunklem Wasser ragten. Eine Zeitlang sah ich niemanden, erst nach einer halben Stunde einen Mann in einem Regencape, der unter einem Baum auf einer Bank saß. Ich fragte ihn, wo ungefähr der Fluß liege, und er zeigte mir den Weg, eigentlich eher ein breiter Pfad voller Steine, schlammfarben. Einst hatte ich auf einem Friedhof in Montevideo auf der anderen Seite des Flusses gestanden, der an dieser Stelle so mächtig und breit ist, daß man das jenseitige Ufer nicht sehen kann, und über die Menschen nachgedacht, die dort während der Diktatur aus Flugzeugen geworfen worden waren. Nichts davon war sichtbar, und doch war es da. Abwesend, anwesend. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich jetzt dorthin wollte, weil dieser Fluß etwas vom Meer heraufbeschwört und von der großen Leere, die damit verbunden ist.
Es begann stärker zu regnen, dadurch bekam der Spaziergang etwas von einem geistigen Exerzitium, etwas, das ertragen werden mußte, dann aber mit einer Belohnung, einem weiten Blick, enden würde. Still war es, das Maß meiner Füße eine Uhr ohne Ziffern. Ich sah braune Vögel, deren Namen ich nicht kannte, über mir zogen Wolken dahin in den Farben von Zink und Blei, als wären sie mit mir unterwegs, und gemeinsam gelangten wir zum Fluß, der so breit war, wie ich gehofft hatte, und der erzählte, von wie weit her er gekommen war. Eine schräge Böschung, auf der das Wasser alles mögliche zurückgelassen hatte, Äste, Baumstümpfe, einen toten Fisch, leere Plastikflaschen, Steine. Und meinen Stein. Ich sah ihn sofort dank seiner roten Farbe, aber er war nicht nur rot. Eigentlich war es eher die steingewordene Fahne eines unbekannten Regiments, rot, hellgrau, rot. Ich hob ihn auf, er lag leicht und klein in meiner Hand. Es hatte kurz aufgehört zu regnen, zwischen den Wolken erschien eine Art Lichtpfütze, der Stein glänzte ein wenig, weil er noch naß war, jetzt konnte ich ihn besser sehen und begreifen, wie der Fluß ihn so geformt hatte. Das Rot war Terrakotta, gebrannte Erde, das Rot zweier Ziegelsteine, mit Zement aneinandergeklebt, irgendwann als Stück einer Mauer im Wasser gelandet, langsam abgeschliffen, in diesem Moment von mir ausgewählt, mit auf die Reise zu gehen. Er ist heute hier, wo ich dieses schreibe, in Spanien. Wertlos, unscheinbar, notwendig. Ich benutze Steine und Muscheln, um Räume zu meinen zu machen. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Ein anonymes Hotelzimmer wird zu meinem Zimmer durch eine Muschel oder einen Stein, den ich zu diesem Zweck ausgesucht habe. Amulett, Fetisch, der zwei Voraussetzungen erfüllen muß: Er muß unscheinbar und für andere wertlos sein, und von einer für andere nicht wahrnehmbaren Schönheit. Ich nehme ihn in die Hand, er fühlt sich trocken und kühl an. Zwischen uns herrscht vorbildliche Treue. Wenn ich schreibe, liegt er neben mir. Heute verreise ich, und wenn ich in einigen Wochen zurückkomme, ist er hier. Ob er sich noch erinnert, zu welchem Haus er einst gehört hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß er da lag, naß und rot, an einem Tag mit viel Regen, an einem breiten Fluß, der auf dem Weg zum Ozean war.
Poseidon XXIII
D ies soll der letzte Brief sein. Es ist Winter auf der Insel, wenn ich hinausgehe, spüre
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