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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Viola dorthin führen. Und wer weiß, vielleicht konnte ich den Ort, den ich als verwunschen und eindrucksvoll in Erinnerung hatte, eines Tages meinem eigenen Kind zeigen?
    Es war eigenartig, dass ich so viele Jahre nicht mehr daran gedacht hatte. Der Wald und der See. Die Erinnerung war verschwommen, aber sie war wieder da und meine Brust zog sich vor Sehnsucht zusammen. Der Bildschirm verschwamm vor meinen Augen und ich ließ mich von dem herannahenden Rauschen davontragen.
    Omi, ich vermisse dich so!
    … liebes Nora-Kind!
    Warum kannst du nicht mehr bei mir sein.
    … bin immer bei dir …
    Du fehlst mir so.
    Gib acht.
    Was ist, Omi?
    Gib acht, der Wald …
     
    Das Klingeln des Telefons riss mich zurück.
    Benommen, als würde ich aus tiefem Schlaf geholt, griff ich nach dem Hörer, der neben der Tastatur des Computers lag.
    « Ja?»
    « Ich bin’s!»
    «Oliver!»
    «Du, es tut mir furchtbar leid, aber es wird wohl heute doch wieder später. Sei mir nicht böse, ja? Vielleicht schaffe ich es bis elf oder so, aber versprechen kann ich es nicht. Wenn du müde bist, geh bitte schlafen und warte nicht auf mich, ja?»
    « Ist schon okay.»
    « Wenn die Berliner erstmal weg sind», Oliver dämpfte seine Stimme, «dann wird es wieder besser werden.»
    « Bist du … noch sauer auf mich? Du, ich weiß auch nicht, was im Moment mit mir los ist.»
    Natürlich wusste ich es . Oder ich ahnte es zumindest, aber mir war auch klar, dass es besser war, wenn ich wenigstens versuchte, den Anschein von Normalität wieder herzustellen. Ich wollte keinen Streit mit Oliver, auch wenn er mir in den letzten Tagen unerklärlicherweise auf die Nerven gegangen war.
    Vielleicht war es ganz gut, wenn ich heute den ganzen Tag für mich hatte. Wenn Oliver heute Abend spät kam, würde ich ihm hoffentlich einiges zu erzählen haben. Oder morgen.
    « Ich liebe dich, Nora. Mach dir keine Sorgen. Wir reden dann später, ja? Ich wollte nur kurz Bescheid sagen, bevor ich in die Besprechung gehe.“ Er seufzte. „Ich zähle schon nicht mehr mit, wie viele Meetings die hier in den letzten Tagen abgehalten haben. Und mehr gefunden als wir haben die auch nicht. Aber am Anfang haben sie so getan, als verstünden wir unseren Job nicht. Wir sind ja nur die doofe Provinzpolizei.»
    « Reg dich nicht auf. Wenn es einen Zusammenhang gegeben hätte, dann hättest du ihn auch gefunden.»
    « Danke, aber das Dumme ist ja, dass ich immer noch denke, da könnte etwas sein. Dass all diese Vermissten, oder wenigstens einige von ihnen, etwas Gemeinsames haben. Ich weiß nur nicht, was es ist. Du, ich muss …»
    «Ja, ist gut, bis später!»
    Wir legten auf, und ich zog die Quittungskopie, die Uta Simoni mir überlassen hatte, aus der Hosentasche. Ich legte das Papier auf den Tisch und glättete es mit dem Handrücken.
    Ich würde es so machen, wie Frau Simoni gesagt hatte: Hinfahren und dann fragen. Was auch immer ich dort vorfand, ich wollte mir selbst ein Bild davon machen. Da Oliver ohnehin erst spät nach Hause kommen würde, konnte ich den Ausflug genauso gut jetzt gleich unternehmen. Ich faltete die Quittung sorgsam zusammen und steckte sie sorgsam zurück in meine Hosentasche.
    Bevor ich losf uhr, machte ich mir ein Brot, das ich stehend in der Küche herunter schlang, dazu trank ich den kalten Tee vom Morgen.
    Die Unruhe vibrierte in mir und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich auch noch mit den Armen und Beinen zappelte. Dabei konnte ich ja nicht einmal genau sagen, was ich eigentlich erwartete oder vorzufinden hoffte – oder befürchtete. Ich wusste nur, dass ich etwas tun musste. Ich wusste jetzt, woher das Bett stammte. Diesen Ort und die Menschen, die dort lebten, wollte ich mir ansehen, soweit das möglich war. Dann musste ich improvisieren. Da ich nicht wusste, wen oder was ich in Düssen vorfinden würde, konnte ich ja schlecht planen.
    Ich stellte die Tasse in die Spüle und ließ eine Handbreit Wasser hineinlaufen, damit sich keine dunklen Ränder bildeten.
    Kurz überlegte ich noch, ob ich den Karton mit Waschschüssel und Kanne auspacken sollte, verwarf den Gedanken dann wieder. In meiner Ungeduld würde ich nur etwas hinfallen lassen. Außerdem, der Karton lief mir ja schließlich nicht weg. Ich nahm ihn vom Küchentisch auf und trug ihn vorsichtig hinüber in die Abstellkammer. Heute Abend oder Morgen würde ich Oliver damit überraschen.
    Dann griff i ch nach meiner Jacke, die im Eingangsflur an der Garderobe hing und verließ das Haus.

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