Nora Morgenroth: Die Gabe
Einäscherung in Frage. Sprich mit Herrn Seelmann, wie lange man das hinauszögern kann. Denn Hedda muss dabei sein, das ist wohl klar. Also musst du auch mit Heddas Ärzten sprechen. Ich hoffe, dass ich spätestens übermorgen hier heraus kann, dann helfe ich dir. Bis dahin wirst du wohl selbst klarkommen müssen.“
Mutter hatte ihr geschäftsmäßiges Gesicht aufgesetzt, allerdings nicht die freundliche Variante.
„Liebes Fräulein, rede bitte nicht mit mir, als wenn ich geistesgestört wäre. Überlass nur mir all die unangenehmen Aufgaben, wofür ist man schließlich Mutter. Wenn du dann nach Hause kommst, ist sicher das Wesentliche geregelt. Ruh dich nur schön weiter aus.“
Ich verzichtete auf den Hinweis, dass ich gerade mit viel Glück einen schweren Autounfall überlebt hatte und noch keineswegs sicher auf den Beinen war. Doch wenn Mutter die ihr zugefallene Aufgabe nur schmollend akzeptieren konnte, dann bitteschön. Ich war schon wieder viel zu erschöpft, um noch länger zu streiten.
Mutter trat an mein Bett und hauchte einen Kuss neben meine Wange, als befänden wir uns auf einem Schickeria-Empfang.
„Ja dann, ich habe einiges zu tun. Vorher muss ich noch nach deiner Schwester sehen, die ist schließlich um einiges schlimmer dran als du. Und ins Büro muss ich auch noch, ob du das nun glaubst oder nicht. Ich komme morgen wieder.“
Ich hielt die Luft an, bis sie den Raum verlassen hatte, dann versuchte ich, mich wieder zu entspannen.
Vielleicht war ich zu hart gewesen, doch wenn ich dieser Auseinandersetzung ausgewichen wäre wie sonst meistens, dann würde sie sich vermutlich immer noch zieren. Seit ich mit Mutter nicht mehr unter einem Dach lebte, war das meine bevorzugte Strategie gewesen, also seit ungefähr zwanzig Jahren. Jedes Mal, wenn sie nörgelte oder mir in wichtigen Momenten ihre Unterstützung versagte, hatte ich mich ein weiteres Stück von ihr zurückgezogen - bis eines Tages fast keine Nähe mehr übrig war. Alles, was blieb, war eine auf tiefsitzender Enttäuschung beruhende Bitterkeit. Ich wollte gar nicht mehr wissen, warum Mutter so war, warum sie uns niemals wirklich an sich herangelassen hatte. In meiner Kindheit hatte ich immer gehofft, dass wir in Wirklichkeit Findelkinder waren oder adoptiert, dass man uns unserem Vater auf geheimnisvolle Weise untergeschoben hatte. Leider sahen wir beide, Hedda und ich, unserer Mutter geradezu frappierend ähnlich. Je älter wir wurden, umso ähnlicher sahen wir Mutter in ihren jeweiligen Lebensabschnitten. Immerhin hatte sie gute Gene, war mit Mitte fünfzig immer noch gertenschlank und wurde meistens eher auf Ende dreißig geschätzt. Hedda und ich hatten beide das dunkle lockige Haar von Mutter geerbt und ihre gerade, um einen Hauch zu große Nase. Nur unsere vollen Lippen und die großen Augen waren eindeutig von Vater, Heddas eher grün und meine braun. Hedda trug ihr Haar in der Naturfarbe kurz und wild, ich ließ meines lang, aber blondiert, seitdem ich mich als Teenager eines Tages im Badezimmer eingeschlossen und mir eine stinkende Paste auf den Kopf geschmiert hatte, die mich in eine Art Pumuckl verwandelt hatte. Das Ergebnis war nicht schön gewesen, aber zu jener Zeit war mir alles lieber, als von weitem mit meiner junggebliebenen Mutter verwechselt zu werden. Gab es einen schlimmeren Alptraum für einen Teenager? Inzwischen ließ ich mich regelmäßig vom Friseur aufhellen. Auf diese Weise unterschieden wir Schwestern uns dann doch von Mutter, die mit ihrer offenen Mähne von hinten immer noch wie ein junges Mädchen wirkte. Falls sie schon graue Strähnen hatte, wurden diese zuverlässig getönt. Niemand sah Ursula Morgenroth ihr Alter an.
Meine Gedanken wurden vom Eintreten einer Stationsschwester unterbrochen, die meine Temperatur messen wollte. Nachdem sie mir das Thermometer wieder aus dem Mund gezogen hatte, fragte ich nach Frau Dr. Weber.
„Frau Doktor kommt erst morgen früh wieder zur Visite, jetzt hat sie eine Besprechung und dann noch eine OP. Da müssen Sie sich schon gedulden.“
Mir blieb nichts anderes übrig. Die endlose Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich damit, zwischen belanglosen Talkshows und anderen langweiligen Sendungen des Nachmittagsprogramms herum zu schalten. In Begleitung eine r Hilfsschwester unternahm ich später einen Gang zur Toilette, sogar einigermaßen aufrecht und schon fast ohne Hilfe. Es ging schon viel besser als am Morgen und ich war zuversichtlich, dass ich die Klinik in
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