Nora Morgenroth: Die Gabe
mir selbst und brach in Tränen aus. In meinem Inneren tat sich ein Loch auf, das tiefer war als die Lücke, die Daniel und der ganze Kummer und die Enttäuschungen des letzten Jahres gerissen hatten. Bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, war das Feuerwerk verklungen. Ich rappelte mich auf und ging etwas wackelig hinüber ins Badezimmer. Nachdem ich mir eiskaltes Wasser über die Handgelenke und über das Gesicht hatte laufen lassen , richtete ich mich auf. Ich betrachtete meine blutunterlaufenen Augen im Spiegel. Es begann in den Ohren zu rauschen und ich dachte noch, oh nein, lass mich jetzt nicht ohnmächtig werden, da trugen die Schwingen mich bereits davon. Ich stand vor dem Spiegel oder vielmehr meine Hülle stand dort und starrte sich selbst an, gleichzeitig war ich überall. Ich war Raum und Rauschen und Stimme.
… h ab keine Angst…
Omi , was ist mit mir … muss ich jetzt sterben … holst du mich?
Nein … noch lange nicht … Norakind … viel Zeit …
Ich habe Angst .
… h ab keine Angst ... wird nichts passieren.
Sag ihr … alles verzeihe ... musst das für mich tun … alles meine …Schuld…
… o h Nora … geliebtes Kind … fürchte dich nicht
Papa … Papa… Papa!
Ich wollte schreien und davonlaufen, aber ich konnte mich keinen Zentimeter rühren. Eine heiße Welle durchfuhr meinen Körper, der sich nicht mehr wie mein eigener anfühlte, ich war darin und doch wieder nicht.
… fürchte dich nicht…
Als ich mich auf dem Badteppich wiederfand, war das Rauschen verklungen. Um mich herum herrschte eine so vollkommene Stille, dass man hätte meinen können, ich sei allein auf der ganzen Welt. Ich zog mich am Rand des Waschbeckens hoch. Frau Dr. Weber hatte Recht, ich sollte dringend professionelle Hilfe einholen. Wenn meine komischen Zustände, oder wie man das auch immer nennen wollte, was mir seit dem Unfall zu schaffen machte, keine physischen Ursachen hatte, dann brauchte ich einen Seelenklempner. So konnte es jedenfalls nicht weiter gehen. Es wurde ja nicht besser, sondern eher noch schlimmer. Ich hatte ja nicht einmal mitbekommen, wie ich umgekippt war.
Und dann die Stimmen – es war einfach verstörend. Auch wenn ich sie vermisste, ich wollte die Stimmen meiner verstorbenen Verwandten nicht hören. Ich fand keine Erklärung für das, was mit mir geschah. Dass die Gedanken an Marc so intensiv waren, mochte sich noch durch den Schock des Unfalls erklären lassen, der so kurz zurück lag. Aber warum meinte ich, die Stimmen meines Vaters und meiner Großmutter zu hören, so plötzlich nach all den Jahren?
Die Digitalanzeige des Receivers zeigte 03:27. Draußen war es ruhig geworden. Ich hatte den Silvesterabend überstanden, das neue Jahr hatte begonnen und ich hoffte, dass es ein besseres werden würde.
Als ich am nächsten Vormittag aufwachte, brummte mir der Schädel, als hätte jemand einen Schwarm Hornissen freigelassen. Obwohl ich so lange geschlafen hatte, verspürte ich keine Erholung. Ich war wie gerädert und das lag nicht an dem Sekt. Aber wenigstens hatte ich im Traum keine Stimmen gehört, das war schon einmal gut. Trotzdem spürte ich, während ich mich im Bett aufsetzte und versuchte, mit regelmäßigen Atemzügen die aufsteigende Übelkeit in den Griff zu bekommen, eine eigenartige Präsenz.
„Omi?“, sagte ich in die Stille hinein und kam mir zugleich ziemlich albern vor. Plötzlich wünschte ich, sie würde mir doch antworten. Wovor hatte ich eigentlich in der Nacht solche Angst gehabt?
Ich beschloss, auf dem Weg zum Krankenhaus bei dem Waldfriedhof vorbeizufahren. Der Drang, in ihrer Nähe zu sein, war mit einem Mal übermächtig. Und sei es nur an ihrem Grab. Doch zuerst musste ich etwas essen, mein Magen knurrte nachdrücklich und mir war schon ganz flau. Sonst kippte ich womöglich das nächste Mal auf offener Straße um.
Nach dem ich sehr kurz und viel zu heiß geduscht hatte, zog ich mich an und ging in die Küche. Mit einem Handtuchturban auf dem Kopf, den ich mir um die feuchten Haare geschlungen hatte, säbelte ich eine Scheibe von dem Brotlaib ab, den ich gestern gekauft hatte und bestrich sie mit Butter. Etwas Salz darauf, fertig. Wenn ich an Wurst oder Käse dachte, wurde mir schlecht. Aber Butterbrot mit Salz, das ging immer. Leider hatte ich noch keinen eigenen Toaster angeschafft, das wäre noch besser gewesen, aber unseren gemeinsamen hatte ich bei Daniel gelassen. Bei meinem Auszug hatte ich von unseren gemeinsamen
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