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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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passiert? Das ist ja furchtbar! Wer war sie?“
    „Eine junge Frau halt. Hat noch nicht lange da gewohnt. Ich kann nicht behaupten, dass ich sie kannte. Ich kümmere mich um meine eigenen Sachen, wissen Sie? Na, eines Tages ist sie dann vom Balkon gestürzt. Es war einwandfrei ein Unfall, das hat die Polizei festgestellt. Einfach ein tragischer Unfall, mehr nicht.“
     

 
     
FÜNF
    In Gedanken versunken lief ich zur Haltestelle, wartete einige Minuten auf den nächsten Bus und stieg dann ein.
    Vom Balkon gestürzt – wie furchtbar. Natürlich glaubte ich keine Sekunde an Spuk oder dergleichen, aber ich fragte mich dennoch, ob ich den Mietvertrag wohl auch dann unterschrieben hätte, wenn ich das vorher gewusst hätte.
    Am Friedhof stieg ich aus. Der kleine Blumenladen, bei dem ich sonst in letzter Minute ein kleines Sträußchen für das Grab kaufte, hatte geschlossen. Nun würde ich also mit leeren Händen kommen, aber das war jetzt nicht zu ändern. Den Weg quer über das Gelände hätte ich auch mit verbundenen Augen gefunden. Vom Haupteingang führte erst eine schmale geteerte Straße bis zu der kleinen Kapelle, davor bog ich nach links auf einen Sandweg ein. Rechts, geradeaus, dann links, schon war ich da. Ich stellte mich so dicht an die Grabeinfassung aus grauem Granit, dass meine Fußspitzen den Stein berührten. Das war meine Art, eine Verbindung herzustellen. Links lag Omi, über Opa, sozusagen.An den Vater meines Vaters hatte ich keine Erinnerung, so lange war er schon tot. Rechts lag Papa unter einem schlichten Stein . Richard Morgenrot h , stand dort , geliebter Vater und Eheman n .
    „Hallo Papa, hallo Omi“, sagte ich leise und schloss die Augen.
    Ein leichter Wind kam auf und strich mir über die Wangen. Er brachte das Laub der Bäume zum Rascheln. Moment, dachte ich, es kann nicht rascheln, die Bäume haben keine Blätter, es ist Winter. Ich wollte die Augen öffnen, aber etwas hielt mich zurück.
    Was ist das nur? Was passiert mit mir?
    Bleib … Kind … fürchte dich nicht
    Erst kribbelten m eine Fingerspitzen, dann der ganze Arm. Das Vibrieren setzte sich über die Brust und den Bauch bis in die Beine und in die Zehen fort, bis ich den festen Boden unter meinen Füßen nicht mehr spürte.
    Papa, bist du das?
    Mein Herz schlug wie rasend und der Wunsch, fortzulaufen, war fast ebenso stark wie der Drang, seine Stimme erneut zu hören.
    ... bist nicht allein … bin immer bei dir
    Aber Papa, wieso tust du das? … Ich habe Angst.
    Hab keine Angst … Norakind.
    Omi … Omi?
    Es war unmöglich. Ich wollte die Augen aufreißen, damit es aufhörte. Da strich der Wind wie eine Liebkosung über meine Wange. Er war nicht kühl, ganz warm fühlte es sich an, eine Liebkosung. Mein Herzschlag normalisierte sich.
    Warum … warum kann ich euch hören?
    Papas tiefes Lachen erklang, es perlte süß und warm durch jede Faser meines Körpers.
    Papa, ich vermisse dich so
    Vermisse dich auch ...dich auch ... liebes Kind
    … Norakind ... vergiss nicht ... sind immer da
    Aber warum kann ich euch hören
    … du hast die Gabe…
    Was bedeutet das … ich verstehe nicht…
    „Junge Frau, ist Ihnen nicht gut? Stehen Sie mal lieber auf, es ist doch ganz nass und kalt.“
    Eine fremde Stimme . Jemand berührte meinen Arm. Ich öffnete die Augen und stellte fest, dass ich vor dem Grab in der aufgeweichten Erde kniete. Meine Hosenbeine waren durchnässt. Ich blickte hoch, vor mir stand ein fremder Herr in Hut und Mantel. Verlegen ergriff ich die runzlige Hand, die er mir entgegen hielt und ließ mich hochziehen. Für sein Alter war er erstaunlich kräftig.
    „Ist nicht immer einfach hier, nicht wahr? Trotzdem noch einen guten Tag“, sagte er und lüftete grüßend seinen Hut, eine altmodische Geste, die mich eigenartig berührte. Ich sah dem alten Mann nach, wie er sich langsam entfernte und um die nächste Wegbiegung verschwand. Dann beugte ich mich vor und klopfte die schmutzigen Hosenbeine ab. Eigenartigerweise war mir gar nicht kalt, obwohl der nasse Stoff auf meiner Haut klebte. Doch nach und nach wich die Wärme aus meinen Gliedern. Was blieb, war eine deutliche Erinnerung an die Stimmen.
    Z um ersten Mal wusste ich mit Bestimmtheit, dass ich nicht geschlafen oder halluziniert hatte. Ich hatte Omi und Papa zu mir sprechen gehört, wenngleich mir durchaus bewusst war, wie unmöglich das war. Und doch war es so gewesen. Diese neue Gewissheit durchströmte mich und plötzlich machte alles Sinn, auch meine

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