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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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jetzt an den Herd zu stellen, nicht einmal, um mir ein Brot zu schmieren. Kurz entschlossen griff ich in den Kühlschrank und nahm die Sektflasche heraus. Ohne im Wohnzimmer Licht zu machen, trat ich an die Balkontür, ließ den Korken durchs Zimmer schießen und setzte die Flasche ohne Umstände an die Lippen. Etwas von dem Sekt lief mir aus den Mundwinkeln über den Hals in den Ausschnitt meines Shirts. Es war egal, aber mit einem Mal fühlte ich mich dadurch noch einsamer. Ich wollte nicht, dass es egal war, ob ich hier direkt aus der Flasche trank und kleckerte. Ein möglichst gut aussehender Mann sollte hinter mir stehen, mich zärtlich in den Nacken küssen und mir dann stilvoll ein dezent gefülltes Kristallglas mit Champagner reichen. Ich würde mich zu ihm umdrehen, und dann würden wir …
    Schnitt. Schluss mit dem Kitschfilm.
    So war das Leben nicht und meines schon gar nicht. Oder nicht mehr. Stattdessen trank ich Sekt aus dem Supermarkt, der nebenbei bemerkt auch nicht ganz billig gewesen war, direkt aus der Flasche.
    Ich hätte es mir ja auch allein schön und gemütlich machen können, aber ich konnte mich zu nichts aufraffen. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett gelegt, aber ich konnte ja nicht schon wieder schlafen. Ich sah auf die digitale Uhr an dem Satellitenreceiver, der an der rechten Wand auf dem neuen schmalen Sideboard stand, unter dem Fernseher. Sie zeigte 20:56. Selbst wenn ich nicht bis Mitternacht ausharrte, lag noch ein elend langer Abend vor mir. Was sollte ich tun? Die paar Leute, die ich kannte, waren irgendwo und feierten. Natürlich hätte ich mich noch hier oder dort anschließen können, doch mir war immer noch nicht nach Gesellschaft zumute. Wenn nur Sybille hier wäre. Doch es half alles nichts, ich musste diesen Abend jetzt so überstehen.
    Eigentlich hatte ich mir nie sehr viel aus Silvester gemacht . Ich verstand den Drang der meisten Menschen nicht, ausgerechnet an diesem Abend besonders ausgiebig feiern zu müssen. Also konnte ich genauso gut tun, als wäre es ein Abend wie jeder andere. Wenn man Silvester allein war, dann kam es einem doch nur deshalb so trostlos und armselig vor, weil alle Welt einem vorgaukelte, dass dieser Tag so besonders war. Wenn man nicht eingeladen war, dann stimmte mit einem etwas nicht, nur alte Leute waren einsam und feierten nicht mehr. Plötzlich hatte ich Omi vor Augen, wie sie mit Hedda und mir am Küchentisch stand, vor uns die große bunte Keramikschüssel, in der sie sonst im Sommer Fruchtkaltschalen oder Salate anrichtete. Die Schüssel war mit Wasser gefüllt, davor stand eine Kerze. Hedda und ich hielten abwechselnd den rußgeschwärzten Aluminiumlöffel an seinem Holzgriff über die Flamme. Wir schmolzen darauf kleine Figuren aus Blei, um sie dann, sobald das Metall sich verflüssigt hatte, mit einem Ruck in das kalte Wasser zu kippen. Als wir noch so klein waren, dass wir vor dem Küchentisch stehend einen Schemel benötigten, hatte Omi uns immer beim Festhalten des Löffels geholfen, damit wir kein Blei verschütteten und uns nicht verletzten. Die Erinnerungen an die Silvesterabende meiner Kindheit waren untrennbar mit unserer Großmutter verbunden. Wo waren unsere Eltern an diesen Abenden gewesen, warum fehlten sie in diesem Bild? Hatten sie irgendwo mit Freunden gefeiert oder waren sie vielleicht auch dabei gewesen und ich hatte es nur vergessen?
    Man hätte doch meinen können, dass das Vermissen irgendwann aufhören würde . Doch so war es nicht. Im Gegenteil, je länger diese beiden geliebten Menschen fort waren, mein Vater und meine Großmutter, umso unbarmherziger war die Gewissheit, dass sie niemals zurückkommen würden. Mir entfuhr ein trockenes Schluchzen. Ich hob die Flasche erneut an den Mund und trank. In meinem Bauch gluckerte es. Ich setzte die Flasche ab, ließ mich rücklings auf das Sofa fallen und griff nach der Fernbedienung.
    Auf den meisten Programmen liefen die üblichen penetrant launigen Silvestersendungen. Schließlich landete ich auf einem der hinteren Sendeplätze bei einer amerikanischen Komödie aus den fünfziger Jahren. Ich sah eine Weile zu, wie Katharine Hepburn und Spencer Tracy sich kabbelten und wieder vertrugen, doch das HappyEnd verschlief ich. Irgendwann schreckte ich hoch. Der Himmel vor meinen Balkonfenstern schien zu explodieren. Schlaftrunken setzte ich mich auf und sah hinaus. Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
    „Frohes neues Jahr“, sagte ich zu

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