Nora Morgenroth: Die Gabe
wirkte, vor einem knallgelben Lieferwagen. Dabei verdeckte er das Logo auf der Fahrertür, dennoch war unverkennbar, für welches Unternehmen er fuhr. Die leuchtende Farbe hing vor mir im Raum, als hätte sie sich in meine Netzhaut gebrannt. Plötzlich sah ich ein leuchtend gelbes Rechteck auf mich zustürzen, ich fiel und … Doch ich fiel nicht, stattdessen sprang ich auf und stürzte zur Toilette. Ich schaffte es nicht ganz, sondern erbrach mich noch im Flur. Der Kaffee lief mir bitter aus Mund und Nase. Zum Glück hatte ich an diesem Morgen noch nichts gegessen, so dass ich fast nur Flüssigkeit von mir gab. Nur Reste von Pizza und Rotwein, denn ich war am Vorabend mit Franka und Monika beim Italiener gewesen.
Als nichts mehr kam , richtete ich mich auf und machte einen unsicheren Schritt über die ekelhafte Pfütze hinweg. Mechanisch holte ich eine Rolle Toilettenpapier hervor und ließ mich schluchzend auf die Knie nieder. Ich wischte das Erbrochene notdürftig auf. Dann wankte ich gebückt in die Küche, wo ich das stinkende Papierknäuel in den Mülleimer warf. Die ganze Zeit hatte ich das gelbe Rechteck vor Augen, auf das ich in den letzten Wochen immer wieder zugestürzt war. Nun wusste ich, was es war. Ich fiel auf den gelben Lieferwagen zu, ich sah das, was Yasmine in ihren letzten Sekunden gesehen hatte. Mein Körper bog sich wie unter Krämpfen und ich schaffte es gerade wieder zurück zum Sofa, wo ich mich wimmernd zusammenkauerte. Das Entsetzen hatte mich gepackt und wenn ich gekonnt hätte, dann wäre ich jetzt geflohen, aber nicht nur aus dieser verfluchten Wohnung hinaus, sondern am liebsten gleich aus meinem Körper.
Ich wollte d as alles nicht fühlen und wissen, wollte wieder Nora sein, deren schlimmstes Problem ein treuloser Exmann war. Was ich gesehen hatte, widersprach jeglicher Vernunft und allem, an das ich bisher geglaubt hatte und doch wusste ich, dass es genau so zu meiner Wirklichkeit geworden war wie die Stimmen von Omi, Papa und Marc. Nur war das hier noch viel, viel schlimmer, denn ich kannte diese tote Frau ja nicht einmal. Alles, was mich mit ihr verband, war diese Wohnung. Scheinbar war ihr Schicksal zu meinem geworden. Ich verstand das nicht. Viele Menschen zogen jeden Tag in Wohnungen ein, wo vorher vielleicht jemand gelebt hatte, der nun tot war. Warum also ich, warum wurde Yasmines Sterben zu meinem Alptraum? Warum sah ich, wie sie gefallen war? Was war an mir anders als an anderen Menschen? Als das Rauschen näher kam, ließ ich mich bereitwillig davon tragen. Nur fort, weit fort. Ich löste mich in den Stimmen auf und schwebte. Oder vielmehr – ich schwebte nicht, da ich ja nicht mehr war. Nur Stoffliches kann schweben und ich war nur noch Fühlen und Hören und Stimme.
Warum ?
… d u hast die Gabe …
Aber warum ich ?
Frag nicht .
Ich will das nicht .
… Kind … hab keine Angst … liebstes Kind.
Papa hilf mir doch !
… f ürchte dich nicht.
Das schrille Klingeln riss mich zurück auf das Sofa. Ich blickte benommen auf. Dann, als es erneut läutete, rappelte ich mich auf und taumelte bis an die Wohnungstür. Ich rieb mir die Augen und blickte durch den Spion. Hedda. Jetzt dämmerte es mir wieder. Wir waren verabredet, ich sollte meine Schwester zur Besichtigung einer Wohnung nach Vallau begleiten. Ich atmete tief ein und öffnete die Tür. Hedda gefror das Lächeln auf dem Gesicht. Sie sah mich vollkommen entgeistert an.
„Du bist ja gar nicht fertig! Wie siehst du denn aus, ach du meine Güte!“
Sie drängte sich an mir vorbei in die Wohnung und schnupperte mit gerümpfter Nase.
„Was stinkt denn hier so? Und warum bist du nicht fertig?“
„Ich … mir war nur übel“, sagte ich und schluckte. Es tat mir leid, dass ich Hedda vergessen hatte. Ich wusste doch, wie wichtig ihr die neue Wohnung war. Auch wenn es ganz und gar nicht in meinem Interesse lag – natürlich wollte ich sie trotzdem auf dem Weg in ihr neues Leben unterstützen. Nicht nur, weil ich es Marc versprochen hatte. Hedda war nun einmal meine kleine Schwester, die ich von Herzen liebte. Trotzdem hätte ich jetzt alles darum gegeben, sie nicht begleiten zu müssen.
„Hey, entschuldige“, sagte Hedda. „Du sieht wirklich nicht so gut aus. Bist du krank? Warum hast du nicht angerufen?“
„Ich bin nicht krank, es ist nur … ich bin nicht so gut drauf. Das ist alles.“
„Ja, aber was machen wir denn jetzt mit der Besichtigung? Wenn du nicht mitkommen kannst, dann sag es. Aber
Weitere Kostenlose Bücher