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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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also räumte ich allein auf, wusch die restlichen Tassen ab und hinterließ den Laden so, wie die Chefin es zum Feierabend hin wünschte. Kurz nach halb sieben machte ich mich auf den Weg. Ich war so in Gedanken, dass ich zuerst Schwierigkeiten hatte, den Parkplatz wiederzufinden, auf dem ich am Morgen meinen Wagen abgestellt hatte. Frankas Bericht ging mir wieder und wieder durch den Sinn. Es war, als setzte man in einem Puzzlespiel ein paar fehlende Teile in das noch unvollständige Bild. Ich begriff noch längst nicht alles, aber immerhin konnte ich mir nun schon eher vorstellen, wie Yasmine mit dem bekannten Politiker in Berührung gekommen war. Ich dachte daran, wie ich getanzt hatte, wie ich gefühlt hatte, was sie fühlte. Yasmine musste auf diesen Partys gewesen sein, was auch immer sie dazu bewogen haben mochte. Ich kannte das Foto von ihr, das im Internet kursierte, von der Polizei freigegeben in der Hoffnung auf Hinweise zum unerklärlichen Fall der Yasmine A. Sie war wunderschön gewesen, zweifellos eine junge Frau, nach der sich ein Mann umdrehte. Wenn sie Geld gebraucht hatte, sich vielleicht ein wenig naiv auf die Sache mit den Partys eingelassen hatte, dann war das eine plausible Möglichkeit, wie die beiden sich begegnet waren. Und dann war mehr daraus geworden.
    Zuhause angekommen, eilte ich direkt auf die Dachterrasse und stellte mich an das Geländer, doch Yasmine kam nicht. Irgendwann gab ich es auf und ging hinein. In der Wohnung ergriff mich ein lähmendes Gefühl von Trauer, ich legte mich auf das Sofa und starrte vor mich hin. Als es läutete, reagierte ich zuerst nicht . Erst nach dem dritten Klingeln machte ich mich auf den Weg zur Tür. Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
    „Ja?“
    „Daniel.“
    Den hatte ich vollkommen vergessen. Ich wollte niemanden sehen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich jetzt mit ihm zu streiten. Also drückte ich auf den Summer. Der Einfachheit halber blieb ich gleich an der Tür stehen und öffnete, als ich ihn aus dem Fahrstuhl treten hörte. In der rechten Hand trug Daniel eine große Tüte vom Dim Sum Haus am Rathausplatz. Mit der linken streckte er mir eine Flasche Weißwein entgegen, wie eine Eintrittskarte. Es war wirklich fast wie früher, wenn Daniel nach Hause gekommen war und wir es uns gemütlich gemacht hatten. Aber auch nur fast. Wir hatten dann meistens gemütlich vor dem Fernseher gegessen, gingen danach ins Bett und liebten uns. Es war vielleicht nicht spektakulär gewesen oder besonders aufregend, nachdem die erste Verliebtheit vorbei war. Aber es war mein Leben mit Daniel gewesen, schön und vertraut. Meine momentane Stimmung war bereits so trübe, dass Daniels Anblick und die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit mir keinen Stich versetzten.
    „Hi“, sagte er, beugte sich vor und platzierte einen Kuss auf meiner Wange.
    „Bist du auch eben erst gekommen?“
    Ich blickte an mir herunter und stellte fest, dass ich noch immer meinen Mantel trug.
    „Nein, geht schon, komm rein.“
    Daniel hängte unsere Jacken auf, während ich das Essen in die Küche trug und mechanisch den Wein entkorkte. Mein Lieblingswein, das hatte er nicht vergessen. Früher hatte ich ihn dafür geliebt, dass er so aufmerksam war und sich stets meine Vorlieben merkte . Ich hatte mich so umsorgt und geliebt gefühlt. Jetzt erkannte ich zum ersten Mal, dass es gar nichts mit mir zu tun gehabt hatte. Das war einfach Daniel und es bedeutete nicht automatisch, dass er mich liebte.
    Ich würde mit ihm essen und ihn dann bitten , zu gehen. Yasmine fehlte mir und ich war einfach nur erschöpft. Ich kam damals nicht auf die Idee, dass die bleierne Traurigkeit, die an mir hing wie ein nasser Sack, gar nicht meine gewesen sein könnte. Dass sie mir schon so nahe war, dass ich nicht mehr unterschied zwischen meinen und ihren Empfindungen.
    Natürlich konnte man es billig oder abgeschmackt nennen, dass ich mir, während ich kaute und Daniels Wein in mich hinein kippte, die Geschichten meines Exmannes über das unerwartet schwierige Leben als frischgebackener Familienvater anhörte, dass Virginia immer übermüdet war und ihm nach einem langen Arbeitstag, sobald er abends nach Hause kam, das Kind in den Arm drückte. Er witzelte, dass er sich schon überlegt habe, das Schlafen komplett einzustellen.
    Und natürlich hätte ich wegrücken können, als Daniel auf dem Sofa immer näher an mich heranrutschte, nachdem er das Sakko abgelegt hatte. Erst recht, als er einen Arm um

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