Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
Vom Netzwerk:
verzichten und ich fürchtete, dass Yasmine mir verloren ging, wenn jemand Fremdes bei mir einzog.
    Wie in den ersten Wochen nach dem Unfall zog ich mich von allen zurück. Ich ging zur Arbeit und telefonierte pflichtschuldig mit Hedda, die zum Glück wegen ihres bevorstehenden Umzuges nach Vallau nicht viel Zeit für mich hatte. An die sporadischen Besuche meines Vaters und meiner Großmutter hatte ich mich so sehr gewöhnt, dass ich mich von Zeit zu Zeit selbst daran erinnern musste, dass sie nicht mehr lebten. Zweifellos würde es mir guttun, wenn Sybille erst wieder da war. Und doch wollte ich sie nicht hier im Loft haben, wollte nicht riskieren, dass die Verbindung zu Yasmine abriss.
    Das andere, was an diesem Freitag am späten Nachmittag geschah, war ein gänzlich unerwarteter Besuch. Es klingelte, als ich gerade dabei war, die längst überfällige Reinigung meines Badezimmers durchzuführen. Es war lange her, dass ich mich zu so etwas hatte aufraffen können und ich war fast fertig. Alles blinkte und blitzte wie schon lange nicht mehr – wenigstens in diesem einen Raum. Da ich gerade den Boden aufgewischt hatte, erhob ich mich von allen Vieren und ging zur Tür, wo ich mit einem Finger, der noch im gelben Gummihandschuh steckte, auf den Knopf der Gegensprechanlage drückte.
    „Ja?“
    „Lüdke hier, Kriminalhauptkommissar Lüdke, Sie waren letztens bei uns und …“
    „Ich weiß, wer Sie sind. Fünfter Stock“, unterbrach ich ihn und drückte auf den Türöffner. So schnell hatte ich noch nie in meinem Leben Gummihandschuhe abgestreift, mir Deo unter die Achseln gesprüht und eine Zahnpastawurst direkt aus der Tube in den Mund gequetscht. Zu mehr war keine Zeit. Wenn der Fahrstuhl funktionierte, was er zumindest am Mittag noch getan hatte, dann war der Mann in einer Minute oben. Da läutete es schon an der Tür. Ich warf den Putzlappen, Eimer und die Handschuhe in die Wanne hinter den Duschvorhang und eilte zur Tür.
    Lederjacke, Jeans und ein Hemd ohne Krawatte, darüber d er helle, so intensive Blick. Unter dem Arm trug er eine abgewetzte Ledertasche, wie vielleicht Universitätsprofessoren sie benutzten oder zumindest stellte ich mir vor, dass sie es taten. Zu meinem Bild von einem Polizisten passte sie jedenfalls nicht, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass die Kommissare im Fernsehen nie eine Aktentasche dabei hatten. Ich trat zur Seite.
    „Kommen Sie herein.“
    Auf meine Frage nach einem Tee sagte er ja, dann schlenderte er durch mein unaufgeräumtes Wohnzimmer, bis ich fertig war und die beiden dampfenden Becher auf das Tischchen stellte.
    „Toller Blick“, sagte er und wandte sich vom Terrassenfenster ab. Dann standen wir uns gegenüber, beide verlegen und der Satz hallte nach.
    „Sie wissen schon, ich meine …“
    „Ja, ich weiß, der Blick ist trotz allem schön. Wollen Sie sich nicht setzen?“
    Wir setzten uns jeder auf eine Ecke des Sofas, das mir plötzlich viel zu klein vorkam. Ich bekam so wenig Besuch, dass mir nicht einmal aufgefallen war, wie viel angenehmer es doch war, wenn der andere einem auf einem Sessel gegenübersaß. So aber mussten wir uns entweder schräg hinsetzen oder die ganze Zeit den Kopf verdrehen, um uns während des Gesprächs anzusehen. Wenn man nicht knutschen oder sich aneinander kuscheln wollte, war es einfach unpraktisch, auf dem gleichen Sofa zu sitzen. Während ich verlegen an meiner Tasse nippte, konnte ich mir die Vorstellung nicht verkneifen, wie es wäre, diesen Mann zu küssen. Ich musste ihn nicht einmal ansehen, um seinen Mund vor Augen zu haben. Komisch, da ich ihm doch gerade erst zum zweiten Mal begegnet war. Die Lippen verliehen seinem Gesicht einen entschlossenen Zug, dabei waren sie nicht zu schmal, aber auch nicht zu voll. Männer mit allzu vollen Lippen konnte ich nicht ausstehen.
    „Nun, ich war gerade in der Gegend“, begann der Hauptkommissar das Gespräch. „Ich hätte natürlich auch anrufen können, aber … nun ja, ich hoffe, ich störe nicht. Es dauert auch nicht lange.“
    „Nein, Sie stören nicht. Gibt es denn etwas Neues?“
    „Sie können sich denken, dass ich Ihnen das nicht verraten darf. Ich wollte hauptsächlich fragen, ob Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen haben ? Ist Ihnen noch etwas eingefallen, ich meine, sind Sie immer noch so sicher wie neulich? Haben Sie vielleicht noch einmal von Frau Abassian geträumt?“
    Ich stellte meine Tasse ab.
    „Hören Sie, mir ist auch klar, dass sich das, was ich

Weitere Kostenlose Bücher