Nora Morgenroth: Die Gabe
Fotos auf den Computer geladen und fing an, sie der Reihe nach durchzugehen. Einige Aufnahmen waren schief geraten, andere hingegen so unscharf, dass kaum etwas zu erkennen, geschweige denn zu lesen war. Andere wieder waren gestochen scharf gelungen, trotzdem konnte ich nicht mit allen Informationen etwas anfangen. Eingescannte Fingerabdrücke, rätselhafte Striche, die von DNA-Untersuchungen stammten, dazu das sperrige und ungewohnte Vokabular von Polizeiberichten. Von der Rekonstruktion des Unfallherganges von dem Moment an, als Yasmines Körper auf das Dach des Paketfahrzeuges aufgeschlagen war, verstand ich immerhin so viel, dass mir davon schlecht wurde. Der Bericht aus der Pathologie, unterzeichnet von einem oder einer Doktor Brinkerhoff, war grauenvoll zu lesen. Die Befragung der anderen Hausbewohner, die einzeln protokolliert waren, brachten mir kaum neue Erkenntnisse. Die wenigen Personen, die zum Unfallzeitpunkt im Haus anwesend waren, galten der Polizei als gänzlich unverdächtig. Die Fingerabdrücke des Hausmeisters waren aus nachvollziehbaren Gründen an vielen Stellen in der Wohnung verteilt, wie überhaupt im ganzen Haus. Für die fragliche Uhrzeit verfügte er über ein wasserdichtes, wenn auch etwas peinliches Alibi: Während Frau Anders für ein paar Tage mit ihrer Schwester auf Sylt weilte, hatte Herr Anders sich offenbar in einem FKK-Club mit zwei Damen vergnügt, die einhellig bestätigten, dass sie mehrere Stunden zu dritt verbracht hätten. Auf dieses Detail hätte ich gern verzichtet. Der Hausmeister war mir bisher eher harmlos und langweilig vorgekommen, aber manchmal waren die Menschen eben gar nicht so, wie sie schienen. Letztlich ging es mich ja auch überhaupt nichts an und ich nahm mir das nächste Foto vor. Nach Aktenlage blieb die Frage ungeklärt, woher die Verstorbene das Geld für die Bareinzahlungen auf ihrem Konto hatte, von dem sie die Miete und andere Ausgaben beglich. Als Studentin verfügte sie kaum über eigene Mittel, zumal sie schon seit mehr als einem Semester nicht mehr an der Universität gesehen worden war. Niemand wusste, wo sie möglicherweise gejobbt hatte. Eine Zeitlang wurde gemutmaßt, dass Frau Abassian im Rotlichtmilieu tätig gewesen sei. Außer ein paar nahezu durchsichtigen Dessous gab es jedoch nichts, was diese Vermutung weiter untermauerte. Und so etwas mochten schließlich viele Leute. Befragungen im Milieu hatten nichts davon bestätigt. Es schien fast, als hätte niemand diese schöne junge Frau gekannt. Ihr Leben warf genau so viele Fragen auf wie ihr grauenvolles Ende.
Selbst die Eltern, die zur Überführung des Leichnams aus der armenischen Hauptstadt Jerewan angereist waren, konnten oder wollten nichts beitragen. Die Verständigung hatte sich trotz Dolmetscher als sehr schwierig erwiesen. Die Eheleute Abassian hatten hartnäckig darauf beharrt, dass Yasmine, ihr einziges Kind, zum Studium in Deutschland gewesen sei. Viel mehr war aus ihnen nicht herauszubringen gewesen und da sie in keinem Zusammenhang mit dem Tod der Tochter standen, waren die Beamten nicht weiter in sie gedrungen. Sobald der Leichnam nach der Obduktion freigegeben war, reisten sie mit ihrem toten Kind ab.
Ich rauchte entgegen meiner sonstigen Gewohnheit eine Zigarette nach der anderen, die Kippen drückte ich auf einer Untertasse aus . Der Rauch waberte zusammen mit Yasmines Trauer durch die Wohnung. Der Qualm wurde immer dichter, während ich las und las. Zugleich schien es, als löste die Traurigkeit sich im Nikotindunst auf und verwandelte sich in eine unbändige Wut, die mir die Gurgel zuschnürte. Es war alles so verflucht sinnlos. Dieser grausame, sinnlose Tod! Ich musste irgendetwas tun. Von der Polizei hatten wir keine Hilfe mehr zu erwarten, wir waren auf uns allein gestellt. Aber was konnte ich tun?
Plötzlich wusste ich es: Ich musste unbedingt Frankas Freundin Jessica treffen, vielleicht brachte uns das weiter. Ich griff nach dem Handy und sandte Franka eine SMS. Zum Glück war sie immer für spontane Unternehmungen zu haben – keine zehn Minuten später waren wir verabredet. Doch ich wollte noch etwas versuchen. Ich öffnete den Browser und klickte meine bevorzugte Suchmaschine an. Wenn man mich zu dem Herrn Abgeordneten nicht vorließ, würde ich einen anderen Weg finden, um an ihn heran zu kommen. Diesmal hatten wir auf Anhieb Glück. Es fühlte sich an, als blickte Yasmine mir ungeduldig über die Schulter. Es hätte mich nicht gewundert, wenn wir
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