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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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befinden musste, spürte ich Yasmines Sehnsucht. Sie blickte mir über die Schulter und begann zu wimmern. Das Rauschen und Flattern umschwirrte mich. Zum ersten Mal hörte ich Yasmines Stimme, ein süßer und klagender Gesang. Ich verstand die Worte nicht, aber ich wusste, dass sie ihre Eltern rief. Ihre Sehnsucht war die meine. Sie verzweifelte über die unstillbare Trauer der Eltern und den Umstand, dass sie nicht mehr bei ihnen sein konnte.
    Yasmin e, du konntest nicht wissen, was passieren würde, Yasmine, weine nicht!
    Ich wollte den Laptop zuklappen, doch sie ließ mich nicht. Erst als wir keine Tränen mehr hatten, durfte ich das Gerät ausschalten. Ich fühlte mich ganz müde und aufgequollen. Dann duschte ich lange, ich föhnte mir die Haare und zog mich an. Als ich fertig war, war es Zeit für meine Verabredung. Ich nahm die kleine Puddingschale aus dem Kühlschrank, die ich vorbereitet hatte und ging ein Stockwerk tiefer. Frau Müller hatte mich, als wir uns kürzlich im Treppenhaus trafen, zum Mittagessen eingeladen. Ich hatte gern angenommen und gefragt, ob ich etwas mitbringen könnte, da hatte sie gemeint, dass ein Nachtisch schön wäre. Mein Zeigefinger schwebte schon über dem Klingelknopf, als ich eine Stimme aus der Wohnung hörte. Ich hielt kurz inne und wunderte mich. Frau Müller hatte gar nichts davon gesagt, dass sie noch weitere Gäste erwartete. Im Gegenteil, sie hatte mich gefragt, ob es mir nicht zu langweilig wäre, einer alten Frau Gesellschaft zu leisten. Ich drückte auf die Klingel. Wie gewohnt dauerte es eine Weile, ehe die Tür geöffnet wurde.
    „Hallo, Frau Müller, ich hoffe, ich komme nicht zu spät?“
    „Ach, i wo, kommen Sie herein, liebes Kind.“
    Jeder anderen Person, die mich ungefrag t liebes Kin d nannte, hätte ich vermutlich etwas erzählt, aber Frau Müller durfte das. Mir machte es auch nichts aus, dass sie manchmal etwas abwesend war oder dass es in der Wohnung muffig roch. Ich sagte mir immer, dass wir alle einmal an diesen Punkt kämen – jedenfalls, wenn wir Glück hatten und nicht so früh starben wie die arme Yasmine. Außerdem erinnerte sie mich so sehr an meine Großmutter, dass ich die nostalgischen Gefühle als ein Geschenk betrachtete. Vielleicht machte ich der alten Dame mit meinem Besuch eine kleine Freude, aber für mich war es auch schön und keine lästige nachbarschaftliche Pflicht.
    Der Tisch war fertig gedeckt, zu meinem Erstaunen dann doch nur für zwei Personen. Wir mussten nur noch das Essen auftun. Während wir die vorzüglichen Königsberger Klopse mit Salzkartoffeln verspeisten, sprachen wir nicht viel. Wir wechselten nur hin und wieder ein Wort darüber, wie gut es schmeckte. Für mich selbst kochte ich selten so aufwändig, eigentlich nie, also genoss ich das herrlich altmodische Essen in vollen Zügen. Ich aß einen Teller nach dem anderen, was Frau Müller sichtlich erfreute. Mein Karamellpudding, nicht aus der Tüte, schmeckte ihr zum Glück ebensogut wie mir zuvor die Klopse. Dann bot ich an, dass ich den Abwasch machen würde. Die alte Dame nahm dankbar an. Sie sah ein wenig erschöpft aus. Ich setzte, da ich schon mal in der Küche war, den Wasserkessel auf und brühte eine kleine Kanne Kaffee auf, richtig mit Porzellantrichter und Papierfilter. Währenddessen hatte Frau Müller in ihrem Sessel am Fenster Platz genommen. Als ich mit allem fertig war, brachte ich den Kaffee und unsere Tassen hinüber ins Wohnzimmer und stellte alles auf ein ovales Tischchen. Ich holte mir einen Stuhl vom Esstisch heran und setzte mich. So angenehm gesättigt und zufrieden hatte ich mich seit langem nicht mehr gefühlt.
    „Ist die Yasmine eigentlich auch bei Ihnen gewesen?“
    Ich verschluckte mich an dem Schluck Kaffee im Mund und hustete. Etwas von der braunen Flüssigkeit kleckerte auf mein T-Shirt.
    „Was?“
    „Die junge Frau von oben, meine ich.“
    „Äh, Frau Müller, ich bin die junge Frau von oben .“
    Vielleicht war meine Nachbarin insgesamt doch schon verwirrter als ich angenommen hatte. Ihre etwas wässerigen Augen blickten klar, aber das konnte natürlich auch täuschen.
    „Ich weiß sehr gut, wer Sie sind, mein Kind. Yasmine sieht ja auch ganz anders aus.“
    Ich war sprachlos. Da bemerkte ich, dass die alte Dame an mir vorbei sah, als fixierte sie einen Punkt an der Wand hinter mir. Sie schien mich gar nicht mehr zu bemerken.
    „Frau Müller, ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja ganz blass!“
    „Helfen Sie mir hinüber zum

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