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Nora Morgenroth: Die Gabe

Nora Morgenroth: Die Gabe

Titel: Nora Morgenroth: Die Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Michelsen
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Sofa? Ich bin jetzt doch ein wenig müde.“
    Ich sprang auf und reichte ihr meinen Arm. Frau Müller hakte sich ein und ließ sich zum Sofa führen. Ich half ihr, sich hinzulegen, holte die karierte Wolldecke, die säuberlich zusammengefaltet auf der Kommode gegenüber lag und breitete sie aus. Die alte Dame hatte bereits die Augen geschlossen, sie lächelte und murmelte leise vor sich hin.
    Wie mir schien, war sie bereits im nächsten Moment eingeschlafen.
     

 
ZEHN
    Ich hätte es wissen können, das dachte ich, als ich am Mittwoch gegen Mittag von der Arbeit kam und der Hausmeister mir entgegen kam
    „Hallo Herr Anders, wie geht’s?“
    „Ja danke, alles soweit prima. Ach nein, das wissen Sie wohl noch nicht? Die alte Frau Müller ist tot.“
    „Was?“
    Ich hatte ihn genau verstanden, trotzdem hoffte ich noch, dass ich mich doch irgendwie verhört hatte.
    „Ja, stellen Sie sich vor, ich habe sie heute früh gefunden. Gestern wollte ich schon fragen, ob ich etwas für sie einholen soll, weil doch der Fahrstuhl wieder defekt ist . Dann kam der Wasserschaden im zweiten Stock dazwischen und dann habe ich es vergessen. Und während der ganzen Zeit liegt die arme Frau Müller dort oben, und …“
    „Aber Herr Anders, das wissen Sie doch gar nicht, ich meine, vielleicht ist es gerade erst passiert.“
    „Nein, das ist es ja gerade. Heute früh war ich noch mal im Vierten und als sie dann wieder nicht aufgemacht hat und auch nicht ans Telefon ging, da bin ich mit dem Generalschlüssel rein. Dann roch es schon so. Ich habe dann ja gleich den Notarzt gerufen. Aber es war natürlich zu spät. Aber eindeutig ein natürlicher Tod, sagt der Arzt. Sie ist wohl ganz friedlich eingeschlafen. Aber mindestens seit Sonntag schon hat sie da gelegen.“
    „Was?“, rief ich aus. „Das kann nicht sein, ich war doch Sonntag noch bei Frau Müller zum Mittagessen!“
    Ich erinnerte mich an das Lächeln, kurz bevor sie einschlief. Da hat ihr Felix sie wohl abgeholt, dachte ich, und der Schrecken über den plötzlichen Tod der alten Dame wich einem Gefühl der Erleichterung. Vielleicht war der Zeitpunkt für Elisabeth Müller genau richtig gewesen. Als ich sie das letzte Mal die Augen schließen sah, hatte sie froh ausgesehen und ganz gelöst. Konnte es denn einen besseren Abschluss für ein langes Leben geben?
    „ Ach, wirklich? Naja, sie hatte ja sonst niemanden mehr. Wie gut, dass ich nachgesehen habe, ich meine, noch eine Woche später … na danke.“
    Auf die letzte Bemerkung hätte ich gut verzichten können. Besonders feinfühlig war der Mann nicht.
    Wir wechselten noch ein paar Worte und Siegfried Anders versprach, mir Bescheid zu geben, sobald er etwas über die Beisetzung erfuhr. Wir wussten beide nicht, wer sich um so etwas kümmerte, wenn es keine nahen Angehörigen mehr gab, aber er wollte sich erkundigen. In Gedanken versunken machte ich mich an den Aufstieg, denn am Fahrstuhl hing das altbekannte Schild: DEFEKT. BITTE NUTZEN SIE DEN TREPPENAUFGANG. DIE HAUSVERWALTUNG. Ich hatte selten so ein sinnloses Schild gelesen. Was meinten die denn, was wir ansonsten getan hätten? Hätten wir uns umdrehen und uns ein anderes Zuhause suchen sollen? Oder sollten wir vielleicht dort stehen bleiben und warten, bis der Fahrstuhl nach Tagen endlich repariert wäre?
    Eine Woche später wurde Frau Müller in einer wenig feierlichen Zeremonie neben ihrem Mann beigesetzt. Außer dem Geistlichen waren nur der Bestattungsunternehmer, seine Angestellten, Herr und Frau Anders und ich zugegen. Das war es, was mich an diesem Abschied am meisten betrübte: Dass ein langes Menschenleben vorbei war und sich bald niemand an diese Frau erinnern würde, wer sie gewesen war oder dass es sie überhaupt gegeben hatte. Ich wusste, auch meine Erinnerung würde bald verblassen, schließlich hatten wir uns nicht lange gekannt und das tat mir jetzt leid. Mich tröstete allein der Gedanke, dass Elisabeth Müller nun wohl dort war, wo sie sein wollte, nämlich bei ihrem Felix.
    Am nächsten Tag fuhr ich zum Flughafen, um Sybille abzuholen. Inzwischen hatte ich es mir anders überlegt und ihr via Mail noch angeboten, für die erstenTage zu mir zu ziehen, bis ihr Untermieter auszog. Zu meinem Erstaunen lehnte sie ab. Sybille schrieb zurück : Ich habe hier viel nachgedacht. Vielleicht bin ich jetzt erst erwachsen geworden. Sie sind meine Eltern und zwar die einzigen, die ich je haben werde. Zwei Wochen werde ich es schon bei ihnen aushalten. Wenn nicht,

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