Nora Morgenroth: Die Gabe
gleichzeitig auf den Treffer gedeutet hätten. Das war richtig, richtig gut! Ich notierte mir das Datum und die Adresse auf einem Zettel, dann schaltete ich das Gerät aus. Für heute hatte ich genug. Es wurde höchste Zeit, dass ich mich duschte und für meine Verabredung mit Franka fertig machte. Sie hatte mir versichert, dass wir bei unserem nächtlichen Zug durch die Vallauer Bars Jessie treffen würden. Jessie, die dem smarten John van der Brelie die Nägel gefeilt hatte. Vielleicht würde ich von ihr mehr erfahren. Und wenn nicht, dann konnte ich wenigstens wieder einmal eine ganze Nacht lang tanzen, flirten und weiter tanzen. Es wurde Zeit, dass ich mich nach Männern umsah, die ich auch haben konnte.
Der Abend war unterhaltsam und lustig, so gut hatte ich mich seit langem nicht mehr amüsiert. Wenn man mit Franka unterwegs war, gab es immer etwas zu lachen. So kam es, dass ich am Samstag früh erst gegen fünf Uhr im Bett war, in meinem eigenen allerdings und allein. Die Begegnung mit Jessie hatte mir keine neuen Erkenntnisse gebracht. Sie war schon ziemlich betrunken gewesen, als wir sie weit nach Mitternacht in einem der angesagten neuen Clubs trafen, die neuerdings am Hafen wie die Pilze aus dem Boden schossen. Jessie lehnte an einem Pfeiler neben der Tanzfläche und tauschte tiefe Zungenküsse mit einem Typen aus, der gut und gerne ihr Vater hätte sein können. Mit ihr war nicht viel anzufangen, das merkte ich gleich, als wir sie begrüßten. Betrunken war sie nicht, aber ekstatisch und vollkommen überdreht. Ich tippte auf irgendeine chemische Substanz, die sicher nicht legal war. Das konnte ich vergessen, also zogen Franka und ich bald weiter in die nächste Bar.
Ich schlief bis zum Nachmittag und verbrachte auch den Rest des Tages im Bett, wo ich in den Büchern las, die ich über den Laden bestellt hatte. Da ich mich am Vorabend bereit erklärt hatte zu fahren, hatte ich keinen Alkohol getrunken und fühlte mich entsprechend fit und ausgeruht.
In meinem Wunsch, Yasmine näher zu kommen und sie noch besser kennenzulernen, hatte ich mir eine ganze Reihe von Büchern über Armenien gekauft. Ich wollte wissen, wo sie herkam, wo ihre Wurzeln lagen, in welcher Kultur sie aufgewachsen war. Mir war bewusst geworden, dass ich über ihrLand so gut wie gar nichts wusste, außer dem, was mir aus einer Schullektüre in Erinnerung geblieben war. In der zehnten oder elften Klasse hatten wir im Deutschkurs Franz Werfel s Die vierzig Tage des Musa Dag h gelesen, ein Roman, der den Völkermord durch die Türken an den Armeniern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts thematisierte. Als Schülerin hatte mich das Werk sehr berührt und zutiefst empört. Ich wusste nicht, wo mein altes Exemplar abgeblieben war, also hatte ich es mir noch einmal bestellt, dazu einen Reiseführer und zwei Romane von armenischen Schriftstellern, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte. Meine Kollegin, die ebenso kluge wie belesene Monika, hatte sie mir ohne zu zögern empfohlen.
Am Abend telefonierte ich mit Hedda . Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich wieder wohl, während wir miteinander sprachen. Das Thema Yasmine klammerten wir aus und ich verkniff mir, sie dafür zu schelten, dass sie mir letztens Daniel auf den Hals gehetzt hatte. Sie hatte sich schließlich nur Sorgen um mich gemacht, sagte ich mir. Außerdem hatte mir ja letztlich freigestanden, ob ich nun mit ihm sprach oder nicht. Dass ich dann mit ihm im Bett oder eher gesagt auf meinem Sofa gelandet war, das war nicht Heddas Schuld. Wir lästerten einträchtig über unsere Mutter, die sich bei uns beiden telefonisch für ihre alljährliche Kreuzfahrt abgemeldet hatte. Hedda vermutete, dass ein neuer Lover im Spiel war. Im Zweifel war der wieder deutlich jünger als die flotte Ursula Morgenroth, die sich von ihren Freunden gern Lula nennen ließ.
„Hoffentlich ist er schon über achtzehn“, ätzte ich zurück und wir bogen uns vor Lachen.
Ich ging früh schlafen. Den Sonntagvormittag verbrachte ich mit meinen Büchern und am Laptop, wo ich versuchte, etwas über Yasmines Familie herauszufinden. Obwohl ich aus der Polizeiakte die Vornamen und Adresse der Eltern kannte, fand ich keinen einzigen Eintrag über sie im Internet. Ich fragte mich, wie es ihnen nach dem Tod ihres einzigen Kindes gehen mochte. Es war unvorstellbar, trotzdem fühlte ich mich diesen unbekannten Menschen zutiefst verbunden. Während ich auf Satellitenbildern den Punkt anstarrte, wo sich ihr Haus
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